Menschenkinder
Bueb in seinem Lob der Disziplin . Auch Amy Chua, die ihren Kindern angeblich das Siegen (möglicherweise garniert mit ein paar Macken) beibrachte, sieht sich vor allem als »Exerzierfeldwebel«. Ihr Tipp: Gegenangriffe der Kinder seien am besten mit »Hinterlist« und »Taktik« zu parieren.
Dieser Pessimismus ist aus Sicht der Evolution zunächst einmal bemerkenswert. Warum sollten Kinder, die in der Vergangenheit ohne den Schutz ihrer Eltern kaum ein paar Stunden überlebt hätten, versuchen, die Macht im Laden zu übernehmen? Warum sollen sie darauf gepolt sein, »ihren Willen durchzusetzen«? Gegen die Erwachsenen? Aus Sicht der Evolution legt es eigentlich kein Lebewesen darauf an, möglichst rasch zu Tierfutter zu werden.
Als Beweis für den angeblich angeborenen kindlichen Widerstand werden immer wieder die »Trotzanfälle« genannt, die Kleinkinder ja in schöner Verlässlichkeit im Lauf des zweiten Lebensjahres
entwickeln und dann ein bis zwei Jahre lang regelrecht zelebrieren. Gerne auch an der Kasse im Supermarkt.
Geht es da um die Macht? Aus evolutionärer Sicht ist das dringend zu überdenken. Hinter einem solch aufwendigen Verhalten, das Kinder enorm viel Energie kostet, müsste nämlich ein Nutzen stehen. Ein großer Nutzen – ein Nutzen für ihre Entwicklung. Und sicherlich nicht der, dass die Eltern ihre »Macht« aufgeben oder beleidigt die Flucht ergreifen!
Welchen Sinn macht es also, die Versorger gegen sich aufzubringen, wo man doch vorher durch gezielte Charme-Offensiven so ziemlich alles bekommen hat?
Der Sinn erschließt sich nur, wenn man das Alter betrachtet, in dem die Anfälle sich einstellen: die zweite Hälfte des zweiten Lebensjahres. Jetzt entwickeln die vorher so leicht zu steuernden Kleinen auf einmal ihren »Willen« – egal, ob sie einen Pastor zum Vater haben oder einen Piraten, egal, ob sie in München wohnen oder in Manila. Warum?
Aus evolutionärer Perspektive zerfällt die frühe Kindheit in zwei radikal unterschiedliche Abschnitte. Ja, ließe man die Geschichte der letzten vielen Tausend Jahre im Zeitraffer laufen, wäre man erstaunt, wie wenig kontinuierlich die Kindheit einmal verlief (eine Beobachtung, die wir noch heute in traditionellen Gesellschaften machen können): Etwa drei Jahre lang sind die Kleinen Schoß-, Trage – und Stillkinder, ihr Leben spielt sich ganz stark im Nahbereich ihrer Pflegepersonen ab. Dann aber steht der Sprung über einen regelrechten Graben an. Mit der Geburt des nächsten Kindes nämlich sind die bisherigen Schutz-, Lebens-und Lieblingsplätze auf einmal belegt. Schoß, Brust, Rücken, der Schlafplatz an der Seite der Mutter – alles muss jetzt geräumt werden. Jetzt ist es der Neuankömmling, der das »volle Programm« bekommt, ohne das ein Steinzeitbaby nun einmal nicht sicher hätte gedeihen können. Und das Leben der Mutter als Sammlerin (und damit auch Wanderin) ging ja weiter …
Das ältere Kind wurde also regelrecht vom Schoß der Mutter katapultiert. Wo ging es hin? Mitten in den Clan hinein. Andere
vertraute Erwachsene sorgten jetzt für das Kind. Vor allem aber landete das Kind – bei anderen Kindern, nämlich in der gemischtaltrigen Kindergruppe (die wird uns noch beschäftigen). Und in diesem neuen Lebensraum musste das Kind fit sein. Da musste es »mehr können« als auf dem Schoß der Mutter. Viel mehr!
Dieses Mehr aber fällt nicht vom Himmel – es muss geübt werden. Und zwar schon, bevor das Kind dann tatsächlich über den »Graben« springen muss! Eben dieses Üben packen die Kleinen auch an. Sie bereiten sich klammheimlich auf den ersten Bruch in ihrem Kinderleben vor.
Wie sie das tun, erschließt sich, wenn man einmal betrachtet, was bei den Kindern so ab 18 Monaten genau passiert. Auf einmal sagen sie »Nein« und haben Zornanfälle, wenn man ihnen den Reißverschluss zumachen will. – Und das ist gut so: Sie sollten jetzt ja tatsächlich möglichst viel »selber machen« damit die kleinen Fingerchen rasch geschickt werden, die Sinne geübt und der Körper stark wird. Und da ist eine klare Ansage, ja, die Drohung mit einem Anfall, genau das Richtige! Wer würde denn den Reißverschluss zumachen, wenn das Kleine nicht auf einmal so einen Dickkopf hätte? Mit dem laut gebrüllten »Selber machen!« schützt das Kleinkind also auch seinen Entwicklungsraum gegenüber den Großen, die ja alles so viel besser können. Schon einmal dabei gewesen, wenn ein Kleinkind einen Wasserhahn aufdrehen will?
Natürlich
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