Menschenkinder
sie von ihren Eltern (und die haben sie auch wieder von ihren Eltern).Andere sind uns neu zugeflogen. Sie bilden das Viereck der Angst, das allen heutigen Eltern bekannt ist:
DIE ANGST VOR DEM VERWÖHNEN. Geben wir den Kleinen das, was sie von uns verlangen, so könnten sie später am Leben scheitern. Insbesondere Nähe steht unter Generalverdacht: Schlafen im Bett der Eltern, Hochnehmen, wenn sie schreien, langes Stillen – alles könnte sie »verwöhnen«.
DIE ANGST VOR DEN TYRANNEN. Kinder wollen sich doch gegen die Eltern durchsetzen? Setzen wir ihnen nicht frühzeitig Grenzen, so übernehmen sie bestimmt die Macht im Haus – sie werden zu den gefürchteten »Tyrannen«.
DIE ANGST, NICHT PERFEKT ZU SEIN. Entwicklung ist ein Balanceakt. Wo wir alles perfekt machen, läuft sie gut – was aber, wenn wir einmal das Falsche tun? Dann macht eine Synapse zick anstatt zack und die Kleinen sind für ihr Leben geschädigt!
DIE ANGST, UNSERE KINDER ZU WENIG ZU FÖRDERN. Um sich möglichst gut zu entwickeln, brauchen Kinder unbedingt möglichst viel Anregung, Unterstützung und Hilfe von den Eltern. Nur so entfalten sie das Potenzial, das sie heute so dringend brauchen!
Die Masche ist einfach: Jede Angst bildet den Grundstoff einer neuen Erziehungstheorie. Jede Angst ist frisches Futter für die Spekulanten auf dem Erziehungsmarkt. Jede Angst ist das Baumaterial eines prächtigen Luftschlosses.
Und jede dieser Ängste nährt sich von einem Missverständnis.
Den genannten Ängsten ist nämlich eines gemeinsam: Sie lassen die Geschichte unserer Kinder außer Acht. Wenn unsere Kinder wirklich auf ihrem jahrtausendelangen Weg bestehen konnten, dann deshalb: weil sie gute Antworten auf die Herausforderungen gefunden haben, die sich ihnen stellten. Deshalb,
weil sie Stärken entwickelt haben. Warum denn sollten sie eine Ansammlung von Problemen und Schwächen sein? Wie hätten wir Menschen uns dann unter den schwierigen Bedingungen der Vergangenheit behaupten können?
Sehen wir unsere Ängste deshalb endlich als das, was sie sind: als unsere eigenen Erfindungen.
Die Angst vor dem Verwöhnen
Packen wir gleich die erste Angst bei den Hörnern: die Angst vor dem Verwöhnen. Eltern haben längst akzeptiert, dass Kinder nach ihrem eigenen Tempo sauber werden, und die meisten sehen auch die Zornanfälle nicht mehr gleich als moralische Kernschmelze an. Nur beim Thema Verwöhnen scheint sich seit den Zeiten wenig getan zu haben, als noch Freud persönlich davor warnte, zu viel mütterliche Zärtlichkeit beschleunige die sexuelle Reifung des Kindes.
Heute steht hinter der Angst vor dem Verwöhnen eine andere Sorge: zu »weich« behandelte Kinder könnten es später schwer haben in der rauen Welt. Die Welt ist nun mal nicht mit Plüsch ausgelegt! Eine gewisse Härte und »dosierte Versagung« könnten den Kindern also helfen, ihren Platz im Leben besser zu finden und zu behaupten.
Der Behaviorismus (die in der Nachkriegszeit tonangebende psychologische Denkschule) ließ diese Argumentation geradezu zwingend erscheinen. Wie Experimente an Ratten eindeutig belegten, wird deren Verhalten durch Belohnung häufiger, durch Bestrafung seltener. Auf ein Baby übertragen müsste das doch heißen: Wird ein schreiendes Baby hochgenommen, so wird es wegen dieser »Belohnung« nur noch häufiger schreien! Und ein
kleines Kind, durch viel Kuscheln, Getragenwerden oder überhaupt durch Nähe zu seiner Bezugsperson »belohnt«, wird nach dieser Logik umso gieriger sein nach Nähe und Umsorgtsein!
Schadet Nähe?
Dieses Argument wurde hunderttausendfach verbreitet. Es wurde Millionen von Müttern als Warnung vorgehalten.
Nur, unsere Kinder erzählen eine andere Geschichte.
Denn unsere Kinder stammen aus einer Welt, in der Nähe – und zwar viel davon – ihr wichtigster Schutz war. Über die weiteste Strecke der menschlichen Geschichte lebten wir Menschen ja den Lebensstil der Jäger und Sammler. Genauer gesagt verbrachten wir auf diese Art über 99% unserer Geschichte – bis wir vor etwa 10.000 Jahren (in vielen Gebieten Europas erst vor 4.000 Jahren) sesshaft wurden. In den hunderttausenden von Jahren davor spielte sich das Leben in mobilen Gruppen von vielleicht 50 bis 150 Stammesmitgliedern ab, dauerhaft geschützte Behausungen gab es nicht.
In dieser Welt war die Nähe vertrauter Erwachsener und deren unmittelbare Zuwendung für kleine Kinder das einzige Ticket zum Überleben. Kinder etwa, die ohne zu zögern alleine unter den
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