Menschensoehne
aufgebrachter Aufseher, der auf Pálmi zukam. »Er hat hier alles in Aufruhr gebracht und droht jetzt damit, sich umzubringen. Wenn wir es schaffen, ihn zu beruhigen, kriegen wir die Situation wieder unter Kontrolle.«
»Kommt bloß nicht in meine Nähe, ihr Scheißkerle«, schrie Daníel die Aufseher an, die einen Halbkreis um ihn gebildet hatten und darauf achteten, gebührenden Abstand zu halten. Pálmi beachtete sie aber nicht, sondern ging zu seinem Bruder hinüber. Er machte keinen Versuch, sich auf ihn zu stürzen und ihn vom Fenster wegzuziehen, sondern er stellte sich neben ihn ans Fenster und blickte hinunter. Fünf Stockwerke tiefer sah man den Park, der hinter der Anstalt lag. Früher einmal war er großzügig beleuchtet gewesen, aber jetzt schimmerte nur noch ein kümmerliches Licht irgendwo in der Ferne.
»Weißt du, was sie mir angetan haben, diese verdammten Schweine?«, fragte Daníel. Pálmi hatte ihn nie zuvor so erregt gesehen. Daníel war knapp über vierzig, eher klein gewachsen, trug Jeans und ein weißes Hemd und hatte kurz geschorenes Haar. Er hatte ein Faible für weiße Hemden, wusch sie selbst und bügelte sie sorgfältig, oft stundenlang. Er war barfuß.
»Haben sie dich schlecht behandelt?«
»Diese Scheißkerle. Können wir nicht nach Hause gehen, Pálmi? Warum kannst du nicht einfach für mich sorgen?« »Sollen wir nicht lieber auf dein Zimmer gehen und darüber reden?«
»Nein, lass uns hier reden. Ich komm mit dir nach Hause, Pálmi, und dann wohnen wir zusammen, und ich brauch diese verdammten Schweine nie wieder zu sehen. Bitte, Pálmi, bitte. Ich halte es hier nicht mehr aus, und Mama hat immer gesagt, dass du für mich sorgen würdest. Warum tust du das nicht?«
»Komm doch erst mal vom Fenster weg.«
»Warum nicht, Pálmi?«
»Los, Daníel, komm, wir gehen nach unten.«
»Sie haben mir Gift eingetrichtert, Pálmi. Diese verdammten Arschlöcher. Uns allen. Das sind Unmenschen. Mörder.«
»Lass uns doch unten darüber reden, Daníel. Komm vom Fenster weg.«
Es hatte den Anschein, als hätte die Spannung etwas nachgelassen. Die letzten Patienten wurden aus dem Gemeinschaftsbereich weggeführt, und auch die Aufseher bei den Brüdern wirkten etwas gelassener. Man hatte das Feuer in der Küche gelöscht. Das Gebrüll war verstummt, und die Alarmglocken schrillten nicht mehr. Daníel schien sich beim Anblick seines Bruders ebenfalls etwas beruhigt zu haben.
»Pálmi, kannst du dich erinnern, als ich das erste Mal krank wurde und ihr mich hierher gebracht habt? Ich habe gesagt, dass ich mit einer Sternschnuppe aus dem Paradies auf die Erde gekommen bin. Man hat mich rausgeworfen, weil ich aufgehört hatte zu glauben. Habe ich dir von all den anderen erzählt?«
Daníel hatte seinem Bruder den Arm um die Schultern gelegt. Die Aufseher waren fast alle verschwunden. Daníel flüsterte seinem Bruder ins Ohr.
»Frag danach, woher die anderen gekommen sind.«
»Was für andere, Daníel?«
»Die anderen aus der Schule, Pálmi. Frag, ob sie auch aus dem Paradies vertrieben worden sind.«
Er umklammerte Pálmis Schulter.
»Wen soll ich fragen?«
»Sie wissen ganz genau, was sie verbrochen haben, diese Schweine.«
»Wovon redest du, Daníel? Komm doch jetzt vom Fenster weg. Tu mir den Gefallen und komm runter auf dein Zimmer. Dort können wir in aller Ruhe darüber reden, ob du nicht wieder nach Hause kommen kannst.«
»Weißt du, jetzt sind wir der Sonne am nächsten, mein lieber Pálmi«, sagte Daníel und schien wieder völlig ruhig zu sein. Er küsste seinen Bruder behutsam auf die Stirn, und als sich sein Antlitz entfernte, wurde Pálmi klar, was er vorhatte. Er sah es, aber er begriff es einen Sekundenbruchteil zu spät. Er sah es in den Augen. Der Lebensfunken erlosch. Daníel drehte sich schweigend um und sprang aus dem Fenster. Eine Ewigkeit verging, bevor Pálmi den Aufprall hörte.
Fassungslos näherte er sich dem Fenster und blickte hinunter. Daníel lag rücklings mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf den harten, steilen Treppen, die in den Keller des Hauses führten. Es hatte angefangen, zu schneien. Als der Krankenwagen endlich kam, hatten die weißen Flocken Daníel mit einem hauchdünnen Leichentuch bedeckt.
Zwei
In einem anderen Stadtteil stand ein kleines, einstöckiges über hundert Jahre altes Holzhaus, das von außen mit Wellblech verkleidet und schwarz angestrichen war. Es war von einem ungepflegten und nicht eingezäunten Gärtchen umgeben. In
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