Menschliche Kommunikation
beschädigen oder gar zu zerstören. Er hat daher die
Eigenschaften eines Sicherheitsventils; er ist lebenswichtig ... [40, S. 462].
Das Stück aber befasst sich nicht mit dieser Funktion des Familienmythus, sondern mit seiner Zerstörung. Was die Existenz des
Sohns betrifft, darf nicht als Munition für Georges und Marthas
Gefechte verwendet werden. Die Verletzung dieser ungeschriebenen Regel, selbst in der Hitze des Gefechts, gilt als wirklich
verwerflich:
Martha: Georges Schwierigkeiten bestehen darin ... sein Problem ist,
dass unser kleiner ... ha, ha, ha, HA! ... dass unser Sohn ... - und das frisst an seinen Eingeweiden ... - dass unser Sohn nicht von ihm sein
könnte.
George (ernst): Du bist durch und durch schlecht.
Martha: Und dabei hab ich dir schon hunderttausend Mal gesagt, mein
Schatz, ich würde von keinem andern empfangen als von dir ... das weißt
du doch, mein Schatz.
George: ... durch und durch.
Putzi (aus tiefem trunkenen Leid): Du lieber, lieber Gott!
Nick: Ich glaube, das ist keine Thema für ...
George: Martha lügt. Ich will, dass Sie das wissen. Martha lügt. Es gibt
sehr wenige Dinge auf dieser Welt, deren ich sicher bin ...: Staatsgrenzen,
die Höhe des Meeresspiegels, politische Treue, Moralität ... für keinen
dieser Begriffe würde ich die Hand ins Feuer legen ... Doch die eine
Sache auf dieser untergehenden Welt, deren ich vollkommen sicher bin,
ist meine Partnerschaft, meine genetische Partnerschaft in der Erzeugung
unseres blondäugigen, blauhaarigen ... Sohnes. [S. 47]
Und doch ist es George, der, soweit sich das feststellen lässt, den
eisten Schritt unternimmt, der schließlich die Wandlung seiner
Beziehung zu Martha in Gang setzt. Gleich zu Beginn des Stückes versetzt ihn Marthas Anweisung, die Tür zu öffnen, in das
Dilemma, ihr entweder gehorchen oder die Gäste draußen warten
lassen zu müssen. Er kommt schließlich ihrem Befehl nach - nicht
aber, ohne in typisch symmetrischer Weise sofort wieder Gleichheit herzustellen: Er verbietet ihr, den Sohn zu erwähnen [S. 15].
Wie George selbst jedoch später ausdrücklich feststellt, besteht
eine Spielregel, wonach sie den Sohn keinem Außenstehenden
gegenüber erwähnen dürfen («Du hast dich nicht an die Spielregeln gehalten. Du hast über ihn geredet» [S. 141]). Aus diesem
Grund scheint Georges plötzlicher Hinweis auf dieses Verbot
sowohl völlig unmotiviert als auch unwichtig. Die beiden haben
aber auch eine Spielregel höherer Ordnung - auf der ihr ganzes
Spiel beruht -, wonach weder der eine noch der andere das Verhalten des Partners bestimmen darf. Daher muss jeder Befehl
abgelehnt werden und fordert das gegenteilige Verhalten geradezu heraus. Von dem Augenblick an, in dem George es Martha völlig
unnötigerweise verbietet, den Sohn zu erwähnen, ist es praktisch
sicher, dass Martha ihn erwähnen wird:
George: Tu du mir nur den einen Gefallen und zieh nicht deine Lieblingsnummer ab.
Martha: Lieblingsnummer? Abziehen? Wie redest du mit mir? Was soll das heißen?
George: Lieblingsnummer! Fang bloß nicht mit deiner Lieblingsnummer an.
Martha: Du redest wie deine halbstarken Studenten. Was willst du? Was ist das? Meine Lieblingsnummer?
George: Der Junge. Sprich nicht von unserem Jungen.
Martha: Was hältst du eigentlich von mir?
George: Viel zu viel.
Martha (jetzt ist ihr Zorn echt): So?! Wenn ich will, red ich vom Jungen, so lang's mir passt!
George: Tu mir den Gefallen und lass den Jungen aus dem Spiel.
Martha (drohend): Er ist genauso mein Junge wie deiner. Wenn ich will, red ich von ihm.
George: Ich geb dir den guten Rat, tu's nicht, Martha.
Martha: Ich brauch deinen Rat nicht. (Es klopft.) Herei-ein. (zu George): Geh, mach die Tür auf.
George: Ich hab dich gewarnt.
Martha: Ja, ja, ja ... geh schon, mach auf! [S. 15]
Sowie sich die erste Gelegenheit bietet, erzählt Martha Putzi von ihrem Sohn und seinem Geburtstag.' Von nun an ist, was bisher ein homöostatischer Mechanismus war, nur noch eine zusätzliche
Waffe in ihrem Kampf, und George vernichtet schließlich den
Sohn unter Anrufung eines für beide geltenden Rechts («Ich habe
das Recht, Martha ... Ich habe das Recht, ihn jederzeit zu töten»
[S. 141]).
Was sich vor uns auf der Bühne abspielt, ist der Verlust der Regelsteuerung eines Systems, der schließlich zum Zusammenbruch einer langjährigen Beziehungsstruktur führt. Mehr als irgendetwas anderes ist das Stück die Geschichte einer Systemwandlung,
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