Menschliche Kommunikation
sprechen, so tun sie es in offensichtlich unpersönlicher Weise und beziehen sich nicht auf eine
Person, sondern auf einen Mythus. Bei der ersten Erwähnung des
fiktiven Sohns am Anfang des Stücks spricht George über Marthas
«Lieblingsnummer ... deine Lieblingsnummer, der Junge» [S. 15].
Später spielt er sogar mit dieser Doppelbedeutung:
George: ... Du hast davon angefangen. Wann kommt er nach Hause,
Martha?
Martha: Ach, lass mich in Ruhe. Es tut mir leid, dass ich es erwähnt habe!
George: Dass du «ihn» erwähnt hast, ... nicht «es». Du hast «ihn» erwähnt.
Er ist auf deinem Mist gewachsen, mehr oder weniger. Na, wann erscheint
er denn, der Fehltritt unserer Liebe? Hat er morgen nicht Geburtstag?
(...)
Martha: Ich will nicht davon reden!
George: Das kann ich dir nachfühlen. (zu Putzi und Nick): Martha redet
nicht gern davon ... von «ihm» Es tut ihr leid, dass sie es ... «ihn» in die
Welt gesetzt hat. [S. 46]
So konsequent behalten sie die Unterscheidung zwischen «Sohn»
und «Sohnmythus» während des ganzen Stückes bei, dass die Annahme, sie glaubten wirklich an die Existenz des Sohnes, einfach unmöglich ist. Das beweist besonders Marthas Reaktion auf
Georges Mitteilung vom Tod des «Sohns» - sie zittert am ganzen
Leib vor Wut und vor Schmerz über den Verlust: «... Das darfst
du nicht! Du kannst nicht machen, was du willst! Ich lasse dich
nicht!» [S. 138]
Wenn dem aber so ist, warum dann die Fiktion, einen Sohn zu haben? Wiederum ist das Wofür die sinnvollere Frage als das Warum. Ferreira bemerkt dazu:
Der Familienmythus stellt Ruhepunkte in der Beziehung dar. Er weist Rollen an und schreibt Verhalten vor, das seinerseits die Rollen stärkt und festigt. Davon abgesehen lässt sich sagen, dass sein Inhalt eine kollektive Abweichung darstellt, eine Abweichung, die wir «Pathologie» nennen könnten. Zugleich aber ist der Familienmythus durch die bloße Tatsache seines Bestehens ein Teil des Lebens, ein Stück Wirklichkeit, mit dem die in diese Familie geborenen Kinder konfrontiert sind und das sie genauso beeinflusst wie auch die Außenstehenden, die damit in Berührung kommen [40, S. 462].
Der Sohn ist imaginär, die Interaktion über ihn aber nicht: Sie ist eine zwischenmenschliche Wirklichkeit, deren Verstehen für das Verstehen des Beziehungssystems unerlässlich ist.
Die Grundvoraussetzung für diese Interaktion ist eine Koalition zwischen George und Martha. Um die Fiktion des Sohns aufrechtzuerhalten, müssen sich beide darüber einig sein; denn im Gegensatz zu einem wirklichen Kind, das, einmal gezeugt, ein wirkliches Leben lebt, bedarf es hier einer beständigen Einigung, um den Mythus immer neu zu zeugen. Und auf diesem Gebiet können sich die beiden offenbar einigen, können sie etwas gemeinsam ohne Hader erleben.6 Ihre Fantasie über den Sohn ist so unwahrscheinlich und so persönlich, dass sie sich vielleicht gerade deswegen Einverständnis über sie leisten können. Obwohl
sie über den Sohn genauso zu streiten imstande sind wie über
alles andere, verleiht er ihren symmetrischen Eskalationen dennoch eine gewisse Stabilität - eben die Notwendigkeit, den
Mythus miteinander zu teilen. Ihr Kindmythus ist ein homöostatischer Mechanismus. Im Mittelpunkt ihres Lebens haben sie also
eine stabile symmetrische Koalition, und diese ermöglicht es
ihnen, den Mythus in allen Einzelheiten auszubilden. So z. B.
beschreibt Martha die Kindheit ihres Sohns in einer fast traumartigen Reminiszenz:
Martha: Und als er größer wurde ... - oh, er war so gescheit, so klug ...
ging er zwischen uns ... (Sie breitet die Arme aus.) ... und gab uns seine
Hände... Halt suchend ... und die Berührung unserer Hände ... war
gleichzeitig auch ein gegenseitiger Schutz ... um sich selbst zu beschützen ... und uns. [S. 132]
Wir können fast mit Sicherheit annehmen, dass einem wirklichen
Kind von George und Martha dieselbe Aufgabe zugefallen wäre.
Obwohl wir dies im Stück selbst nicht beobachten können, müssen wir Ferreiras Vermutung beipflichten:
Es hat den Anschein, dass der Familienmythus dann konstelliert wird,
wenn gewisse Spannungen zwischen Familienmitgliedern bestimmte
Grenzen erreichen und bestehende Beziehungen tatsächlich oder vermeintlich zu stören drohen. Der Familienmythus wirkt dann wie ein
Homöostat, der durch die «Temperatur» der Familie aktiviert wird. Wie
jeder homöostatische Mechanismus bewahrt er das Familiensystem
davor, sich selbst zu
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