Menu d'amour
wieder mit so entwaffnender Unbefangenheit vorgetragen, dass man nicht so recht wusste, was man davon halten sollte.
Professor Caspari verfügte über genügend Humor, um eine schlagfertige Antwort zu schätzen. Und er verfügte trotz seiner altersschwachen Augen, die hinter runden Brillengläsern funkelten, über genügend Sehkraft, um Schönheit zu bemerken, wenn sie ihm begegnete. Sein Blick ruhte einen Moment auf der Delinquentin, die inzwischen ihre blaue Kappe abgenommen hatte und diese unschlüssig in den Händen drehte.
»Abgesehen davon, dass es mich ein wenig irritiert, wenn während meines Vortrags die Tür aufgeht, stört mich das sicherlich weniger als Sie, Mademoiselle. Denn im Gegensatz zu Ihnen kenne ich den Stoff meiner Vorlesung ja bereits.«
Valérie nickte zerknirscht und fühlte sich nun offenbar verpflichtet, eine abenteuerliche Erklärung abzugeben, in der eine arme kleine Katze, ein zu hoher Baum, ein hilfsbereiter Polizist und sie selbst die Hauptrolle spielten. »Eigentlich ist es gar nicht meine Art, zu spät zu kommen«, versicherte sie treuherzig. »Es kommt nicht wieder vor.«
3
Ich will nicht behaupten, dass sie es vorsätzlich tat, aber entgegen ihrer Versicherungen war jedem in unserem Semester bereits nach wenigen Wochen klar, dass Valérie Castel einfach nicht pünktlich sein konnte . Seltsamerweise war ihr deswegen niemand wirklich böse. Im Gegenteil – wenn fünf oder zehn oder zwanzig Minuten nach Seminarbeginn die Tür aufflog und das Mädchen im blauen Mantel wie ein Windstoß hereinfegte, warteten alle gespannt auf die Ausrede, mit der sie diesmal wohl aufwarten würde.
Selbst die strengsten Professoren und Dozenten hörten sich mit hochgezogenen Augenbrauen und unterdrückter Heiterkeit die originellen Geschichten an, die Mademoiselle Castel zum Vergnügen aller auftischte, denn abgesehen von ihrer Unpünktlichkeit war Valérie mit ihren klugen und lebhaften Beiträgen eine Bereicherung für jedes Seminar.
Ich jedenfalls hatte mich Hals über Kopf in die notorische Zuspätkommerin verliebt – und mir war klar, dass sie etwas ganz Besonderes war – vielleicht zu besonders für einen so normalen Studenten wie mich. Ich war mir sicher, dass ein Mädchen wie Valérie schon vergeben sein musste, dennoch hatte ich es mir angewöhnt, in den Vorlesungen und Seminaren, die sie regelmäßig besuchte, stets den Stuhl neben mir mit Tasche, Mantel oder Unterlagen zu blockieren, in der verwegenen Hoffnung, dass sie sich auf diese Weise irgendwann neben mich setzen würde.
Beim fünften Mal hatte ich Glück. Valérie kam zu spät, erzählte ihre Geschichte und sah sich suchend um. Ich hob die Hand und deutete auf den Platz neben mir, und sie ließ sich glücklich seufzend nieder und nickte mir freundlich zu. Ihre plötzliche Nähe brachte mein Herz zum Klopfen und ich sah gebannt zu, wie sie sich vorbeugte und ein Sonnenstrahl sich in ihrem Haar verfing. Für wenige Sekunden geriet ich in einen Bannkreis aus kleinsten Goldpartikelchen, die in der Luft tanzten, und es gab nur sie und mich. Doch schon im nächsten Augenblick holte mich die Wirklichkeit in Form eines gutaussehenden Studenten namens Christian ein, der Valérie von der Seite etwas ins Ohr flüsterte, was sie zum Lachen brachte. Immerhin fragte sie mich nach dem Seminar, ob ich zusammen mit ihr und ein paar Kommilitonen noch einen Kaffee trinken gehen wollte.
Natürlich sagte ich ja.
Seither war es zur Gewohnheit geworden, dass ich ihr immer einen Platz freihielt und sie sich ganz selbstverständlich neben mich setzte.
In diesen kostbaren Stunden, in denen die anderen über Zolas Romane und Baudelaires Blumen des Bösen diskutierten, studierte ich verstohlen ihr zartes Profil mit den ausgeprägten Augenbrauen. Ich entdeckte den kleinen Leberfleck an ihrem Halsansatz und kam mir vor wie ein Dieb. Ich betrachtete ihre schmalen weißen Hände und bemerkte mit einigem Missfallen den alten Rubin, den sie stets am Ringfinger trug. Doch als ich einmal nach dem Seminar so beiläufig wie möglich sagte: »Ein schöner Ring – ist der von deiner Großmutter?«, lächelte sie nur versonnen und entgegnete: »Ja, nicht wahr? Den hat mir die Mutter von Paul geschenkt.«
»Und wer ist Paul?«, rutschte es mir heraus und meine Stimme klang nicht mehr ganz so beiläufig, wie ich es mir gewünscht hätte.
Valérie steckte die Unterlagen in ihre Ledermappe und warf mir einen spöttischen Blick zu. »Oh! Höre ich da etwa die
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