Menu d'amour
Eifersucht? Sei nicht so neugierig, Henri Bredin. Lass uns lieber gehen, die anderen warten schon. Wir wollen noch ins Procope .«
Ich packte meine Tasche und lief hinter ihr her. »Wer ist Paul?«, insistierte ich und bemühte mich, den scherzhaften Ton aufzugreifen, den sie angeschlagen hatte. »Oder ist das etwa ein süßes Geheimnis?«
Sie verdrehte die Augen in gespielter Verzweiflung, hakte sich bei mir unter und lachte. »Mein Lieblingscousin, zufrieden? Und jetzt komm.«
Ich glaubte ihr kein Wort, doch gleichzeitig genoss ich die ungeduldige, fast selbstverständliche Geste, mit der sie mich zum Ausgang zerrte, wo die anderen schon auf uns warteten.
4
In den nächsten Wochen sah ich Valérie Castel immer wieder. Wir hatten einige Vorlesungen und Seminare zusammen, wir begegneten uns in der Mensa oder in einem der kleinen Cafés in der Nähe der Sorbonne, wo wir stundenlang zusammen mit den anderen saßen, tranken, rauchten, lachten, redeten, diskutierten. Ich sage »wir«, aber dieses »wir« war wohl eher in meinem Kopf. In Wirklichkeit war es schwierig, ja, nahezu unmöglich, mit Valérie Castel allein zu sein, stets war sie umringt von einem ganzen Hofstaat von Freundinnen oder Kommilitonen, denen sie ihre Gunst gleichermaßen schenkte. Doch auch wenn ich sie mit den anderen teilen musste, blieb ich beharrlich in ihrer Nähe. Ich hatte herausgefunden, dass Valérie oft ganze Nachmittage in der alten Bibliothek der Universität verbrachte. Und hier, in der Stille des Lesesaals mit den vielen Tischlampen, fand ich sie oft genug allein. Sie saß an einem Tisch in der Nähe der hohen alten Fenster, hinter denen sich graue Märzwolken auftürmten, und war ganz versunken in ihr Buch. Wenn sie dann kurz aufschaute und mir mit geröteten Wangen ein wenig geistesabwesend zunickte, war jede Spottlust aus ihren Augen verschwunden. Ich setzte mich ihr gegenüber und gab vor, auch zu lesen. So saßen wir da, in perfekter Zweisamkeit.
Einmal ertappte sie mich, als meine Augen auf ihrem nachdenklich gespitzten Mund ruhten und ich den Blick nicht schnell genug abwenden konnte.
»Was?!«, sagte sie und klappte das Buch mit einem Ruck zu.
»Nichts!«, erwiderte ich aufgeschreckt. Ein paar Studenten sahen von ihren Büchern auf und die Bibliothekarin zischte uns ein »Psst« herüber.
Valérie errötete und kritzelte etwas auf einen Zettel, den sie mir über den Tisch zuschob.
Was starrst du mich so an, Idiot? , las ich. Hör sofort auf damit!
Ich wurde rot. Wie hätte ich jemals damit aufhören können, Valérie Castel anzuschauen? Ich konnte nicht damit aufhören.
Ich hab gar nicht dich angestarrt, sondern dein Buch , schrieb ich zurück. Ich wollte herausfinden, was du liest. Ist es gut?
Sie lehnte sich lächelnd zurück und zog ihre hübschen Augenbrauen zweifelnd hoch.
Sehr gut. Wollen wir einen Kaffee trinken gehen, dann kann ich dir mehr davon erzählen.
Wir schlichen uns aus dem Lesesaal und liefen wenige Minuten später ausgelassen die Treppen des alten Universitätsgebäudes hinunter, dessen imposante Kuppel in den grauen Himmel aufragte. Ein ernsthafter junger Mann mit dunklen Locken und einer verwaschenen braunen Cordjacke und ein Mädchen mit großem lachendem Mund und keck aufgesetzter Baskenmütze, unter der die goldenen Haare ungestüm hervorquollen. Auf einem Photo hätten wir ausgesehen wie ein beneidenswert glückliches Paar. Doch es war kein Photograph zur Stelle, der den Moment einfing. Und dann ging er vorüber …
5
An diesem Nachmittag sollte es Madame Bovary sein, die uns hartnäckig Gesellschaft leistete. Und Monsieur Flaubert in allen Ehren, aber ich muss gestehen, dass er mir – nachdem Valérie etwa zwei Stunden ihrer Begeisterung über diesen absolut genialen Roman (absolut war damals eines ihrer Lieblingswörter) Ausdruck verliehen hatte – ziemlich auf die Nerven ging. Seltsam betäubt lauschte ich Valéries nahezu besessenem Monolog, nickte ab und zu und fühlte mich irgendwie nicht mehr in der Lage, angesichts solch großer Weltliteratur meine eigenen unbedeutenden Gefühle zu erklären.
Als sie endlich schwieg und ich das Gespräch behutsam in eine Richtung lenken wollte, die etwas weniger mit unglücklich-überspannten Ehebrecherinnen und etwas mehr mit uns zu tun haben sollte, tauchte Christian auf, der immer seine blöden Witze machte, und riss mit den Worten »Aah, hier habt ihr euch versteckt! Ich hoffe, Henri langweilt dich nicht zu sehr« das Gespräch an sich.
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