Mephisto
befreiende Geste ihres Herrn reagierte. Hendrik geruhte in die Hände zu klatschen und das Haupt mit einer gnädigen Munterkeit in den Nacken zu werfen. »Weitermachen, Herrschaften!« rief er, wobei seine Stimme den hellen Metallton hatte, dem fast niemand widerstehen konnte. »Wo haben wir unterbrochen?«
Man probierte folgsam die nächste Szene, war aber kaum mit ihr zu Ende gekommen, als Hendrik seinerseits einen Blick auf die Armbanduhr warf. Sie zeigte ein Viertel vor vier Uhr: während er es feststellte, erschrak er, und zwar so heftig, daß es weh im Magen tat. Ihm war eingefallen, daß er um vier Uhr eine Verabredung mit Juliette in seiner Wohnung hatte. Sein Lächeln war etwas krampfhaft, als er dem Ensemble mit hastig-freundlichen Worten mitteilte, nun müsse Schluß gemacht werden. Dem jungen Miklas, der sich ihm mürrischen Gesichtes nahte, um irgendeine Frage zu stellen, winkte er eilig ab. Er rannte durch das dunkle Parkett dem Ausgang zu; legte das steile Stück Weges, das zwischen dem Theaterportal und der Kantine lag, laufend zurück; langte atemlos im ›H. K.‹ an; riß dort seinen braunen Ledermantel und den weichen grauen Hut vom Nagel und war schon davon.
In den Überzieher schlüpfte er erst auf der Straße. Gleichzeitig dachte er nach. Wenn ich zu Fuß gehe, werde ich ein paar Minuten zu spät kommen, so sehr ich mich auch beeile. Juliettchen wird mir einen furchtbaren Empfang bereiten. Mit dem Taxi käme ich zurecht, mit der Trambahn auch beinah noch. Aber ich habe nur ein Fünfmarkstück in der Tasche: dies ist das Geringste, was ich Juliette anbieten darf. An ein Taxi ist also überhaupt nicht zu denken; an die Trambahn aber auch eigentlich nicht, denn es blieben nur vier Mark fünfundachtzig – was zu wenig für Juliettchen ist –, und auch diese Summe in kleiner Münze – was sie sich doch ein für allemal verbeten hat.
Während er diese Überlegung anstellte, war er auch schon weitergetrabt; im Grunde hatte er wohl überhaupt nicht ernsthaft daran gedacht, sich einen Wagen oder auch nur die Trambahn zu leisten; denn über die angebrochenen fünf Mark würde seine Freundin sich wirklich geärgert haben, während ihr scheinbar so heftiger Zorn über seine kleine Verspätung zu den beinah unvermeidlichen Riten ihres Zusammenseins gehörte.
Der Wintertag war klar und sehr kalt; Hendrik fror in seinem leichten Ledermantel, den zu schließen er obendrein noch vergessen hatte. Besonders an den Händen und Füßen spürte er den Frost: Handschuhe besaß er nicht, und die sandalenartigen Spangenschuhe, die seine Fußbekleidung ausmachten, waren entschieden nicht das Passende für die Jahreszeit. Um wärmer zu werden und um Zeit zu sparen, machte er große Schritte, die eine Neigung hatten, in recht kuriose Sprünge und Hüpfer auszuarten. Viele Passanten schauten dem merkwürdigen jungen Mann mit Lächeln oder mit Mißbilligung nach: auf seinem leichten und originellen Schuhwerk bewegte er sich mit einer Behendigkeit, die halb närrischen, halb göttlichen Charakters schien. Übrigens sprang und hüpfte er nicht nur, sondern sang auch dazu, und zwar abwechselnd Mozartmelodien und Operettenschlager. Singen und Hüpfen begleitete der Laufende mit allerlei Gesten, wie man sie auch nicht alle Tage sieht. Jetzt eben spielte er Fangball mit einem Veilchenstrauß. Diesen hatte er im obersten Knopfloch seines Mantels befestigt gefunden, er mußte das Geschenk einer Verehrerin aus dem Ensemble sein, wahrscheinlich kam die zarte Gabe von der kleinen Angelika.
Hendrik dachte an das kurzsichtige und liebenswürdige Geschöpf, während er, springend und singend, auf offener Straße zum Amüsement und Ärgernis der Leute wurde. Merkte er nicht, wie die eine Bürgersdame die andere anstieß, um ihr zuzuraunen: »Das muß doch einer vom Theater sein?« Woraufhin die andere kicherte: »Freilich – das ist doch der, der immer im Künstlertheater mitspielt – dieser Höfgen. Sehen Sie doch nur, Liebste, was er für ulkige Bewegungen macht und wie er immerzu vor sich hin plappert!« Sie lachten beide, und auf der anderen Straßenseite lachten ein paar halbwüchsige Jungen mit. Aber Hendrik – obwohl doch aus Eitelkeit und von Berufes wegen darin geübt, die Reaktion der Menschen auf jede seiner Gesten zu beachten und zu registrieren – bemerkte diesmal weder die Damen noch die Gymnasiasten. Sein beschwingter Lauf durch die Kälte und die Vorfreude auf das Zusammensein mit Juliette hatten ihn in einen
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