Mercy - Die Stunde Der Rache Ist Nah
suchte sie den Verschlag zum unzähligsten Male nach
einer Fluchtmöglichkeit ab. Ihr Herz pochte wie verrückt, ihre Haut war nass
vor kaltem, klammem Schweiß. Hör auf damit! Beruhige dich. Du darfst nicht in
Panik ausbrechen, das ist genau das, was sie will, worauf sie baut. Atme tief
ein, zähl bis zehn und denke rational. Die Frau über ihr ging hin und her und
setzte ihren Plan in die Tat um. Olivia musste sich beeilen. Zitternd holte sie
Luft und unterdrückte das Entsetzen, das an ihr nagte. Die Mörderin wollte,
dass sie vor der Kamera elend und verzweifelt wirkte, schließlich sollte Bentz
ihre grauenvolle Begegnung mit dem Tod wieder und wieder auf Band mitverfolgen.
Offenbar hatte es sich diese Frau zum Ziel gesetzt, Bentz bis an sein
Lebensende heimzusuchen: zunächst, indem sie Jennifer wiederauferstehen ließ,
dann durch Olivias langsamen, qualvollen Tod. Das war ihr Ziel. Kontrolle.
Angst.
Um ihren Plan zu durchkreuzen, würde Olivia das
Finale blockieren müssen, die ultimative Vorstellung, den Coup de grace, den
sie Bentz versetzen wollte. Die Lösung war einfach: Sie musste der Filmerei ein
Ende setzen. Aber wie?
Wenn sie nur an eins der Ruder herankäme und
damit die Kamera herunterreißen oder ihre Entführerin attackieren könnte ...
aber das war unmöglich, schließlich hatte sie schon alles versucht -
vergeblich. Das Gleiche galt für die Harpune und das Stativ. Ausgeschlossen.
Sie konnte nur auf das zurückgreifen, was sie in
Reichweite hatte: einen Eimer, einen Wasserkrug und ein Fotoalbum. Sie
versuchte es mit dem Krug, schleuderte seinen Inhalt durch die Gitterstäbe auf
die Kamera. Wasser spritzte ihr auf Hände und Handgelenke. Die Kamera mit dem
roten Licht wackelte kaum. »Großartig.« Hektisch versuchte sie, auch den Plastikkrug
durch die Gitterstäbe zu quetschen, aber das war unmöglich, genauso unmöglich,
wie die Kamera zu erreichen. »Verdammt!«
Ihr Blick fiel auf das Album. Mit seinem
Kunstledereinband und den prall mit Fotos und Zeitungsartikeln bestückten
Plastikeinsteckseiten war es zu dick, um es in den Käfig zu zerren.
Doch das hieß nicht, dass man es nicht
auseinanderreißen und die einzelnen Seiten benutzen konnte. Mit wild klopfendem
Herzen griff Olivia nach dem Album. Ihre Finger streiften die Seiten, die sie zuvor
umgeblättert hatte, und sie drückte sich mit zusammengebissenen Zähnen so dicht
wie möglich an die Gitterstäbe, um es richtig zu fassen zu bekommen. Die
Schmerzen im Unterleib kehrten zurück, und Olivia krümmte sich zusammen.
Als der Krampf nachließ, streckte sie die Arme
erneut fest entschlossen durch die Gitterstäbe. Sie berührte das Kunstleder
und zog es ein Stück näher heran. Über ihr waren immer noch die Schritte ihrer
Entführerin zu vernehmen.
Gegenstände wurden verschoben. Die Frau
bereitete alles vor, um sie und ihr Baby ertrinken zu lassen. Nein! Olivia durfte sich jetzt
auf nichts anderes als auf ihre Befreiung konzentrieren.
»Sei stark«, sagte sie und wusste nicht, ob sie
zu sich selbst oder zu ihrem ungeborenen Kind sprach. Endlich konnte sie die
Seiten des Albums aus der Spiralbindung reißen. Ihr hastig ersonnener Plan
musste einfach funktionieren! Um ihretwillen. Um Bentz' willen. Um des Babys
willen.
Montoya trat auf die Bremse. Kreischend, mit
zitternder Karosserie kam der Mustang am Hafen zum Stehen. Noch bevor er
richtig ausgerollt war, sprang Bentz auch schon hinaus und rannte auf den
schnittigen Kutter der Küstenwache zu. Montoya folgte dicht hinter ihm. Binnen
Sekunden hatte der Kapitän den Hafen hinter sich gelassen, und sie fuhren in
offenes Gewässer - viel zu langsam für Bentz' Geschmack. Beeil dich, verdammt noch mal, beeil dich! Besorgt
hielt er den Blick auf den endlosen, dunklen Pazifik gerichtet. War es
überhaupt möglich, sie hier zu finden? Er verdrängte seine Furcht und sagte
sich, dass sie noch Zeit hatten, doch er schwitzte und sein Herz raste. Sobald
sie das offene Meer erreicht hatten, beschleunigte der Kapitän, und der Kutter
erwachte lärmend zum Leben.
Hinter ihnen funkelten die Lichter entlang der
Küste und spiegelten sich im Wasser wider, doch sie verblassten, je weiter sie
hinausfuhren. Der Kutter durchschnitt das Wasser, salzige Gischt sprühte in
Bentz' Gesicht. Er suchte die Dunkelheit mit den Augen ab und betete dabei insgeheim,
dass seine Frau noch am Leben war. Dass sie rechtzeitig kamen.
Montoya und Hayes unterhielten sich über das
Dröhnen des Motors und das
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