Mercy Thompson 01 - Ruf des Mondes-retail
beobachtet hatte. Tony kannte sich gut mit solchen Lauschaktionen aus – das war sein Job.
Er hatte das schwarze Haar mit Gel zurückgekämmt und zu einem kurzen Zopf gebunden und war glatt rasiert. In seinem rechten Ohr befanden sich, wie mir auffiel, inzwischen vier Löcher mit drei kleinen Ringen und einen Diamantstecker, was bedeutete, dass er seit unserer letzten Begegnung zwei hinzugefügt hatte. Ein offen getragener Kapuzensweater über einem dünnen T-Shirt, das die Ergebnisse von vielen Stunden im Fitnesscenter gut umriss, ließ ihn aussehen wie das Rekrutierungsposter für eine Hispano-Gang.
»Wir stehen in Verhandlungen«, sagte ich. »Im Augenblick erst einmal kurzfristig. Bist du im Dienst?«
»Nein. Sie haben mir wegen guter Führung einen Tag frei gegeben.« Er dachte allerdings wohl immer über meinen neuen Helfer nach, denn er fügte hinzu: »Ich habe ihn die letzten paar Tage hier in der Nähe gesehen. Er scheint in Ordnung zu sein – wahrscheinlich ein Ausreißer.« In Ordnung bedeutete, keine Drogen und nicht gewalttätig. Insbesondere das Letztere fand ich tröstlich.
Als ich vor etwa neun Jahren anfing, in der Werkstatt zu arbeiten, betrieb Tony eine kleine Pfandleihe um die Ecke. Damals
befand sich dort auch der nächste Getränkeautomat, also sah ich ihn ziemlich oft. Nach einer Weile ging die Pfandleihe in andere Hände über. Ich dachte nicht groß darüber nach, bis ich Tony eines Tages roch, als er an einer Straßenecke stand, mit einem Schild mit der Aufschrift ARBEITE FÜR ESSEN um den Hals.
Ich sage, ich roch ihn, weil der hohläugige Junge mit dem Schild dem erheblich älteren stillen, freundlichen Mann, der die Pfandleihe betrieben hatte, nicht sonderlich ähnlich sah. Verblüfft grüßte ich ihn dennoch mit dem Namen, unter dem ich ihn gekannt hatte. Der Junge starrte mich nur an, als hätte ich den Verstand verloren, aber am nächsten Morgen wartete Tony vor der Werkstatt. Damals erzählte er mir, wovon er lebte – ich hatte nicht angenommen, dass ein Ort von der Größe der Tri-Cities über seine eigenen verdeckt arbeitenden Ermittler verfügte.
Danach war er hin und wieder vorbeigekommen, zunächst jedes Mal in einer anderen Verkleidung. Die Tri-Cities sind nicht allzu groß, und meine Werkstatt liegt am Rand eines Bereichs, der wohl Kennewicks besten Versuch zu einem Viertel mit hoher Kriminalitätsrate darstellt. Angeblich besuchte er mich nur, wenn er sowieso in der Gegend zu tun hatte, aber ich fand bald heraus, dass der wahre Grund in seiner Verblüffung darüber lag, dass ich ihn erkannt hatte. Ich konnte ihm wohl kaum sagen, dass ich ihn einfach erschnuppert hatte.
Seine Mutter stammte aus Italien, sein Vater aus Venezuela, und diese genetische Mischung verlieh ihm ein Gesicht und eine Hautfarbe, die ihm gestatteten, sowohl für einen Mexikaner als auch für einen Afroamerikaner durchzugehen. Wenn es sein musste, konnte er auch immer noch wie achtzehn aussehen, aber in Wirklichkeit musste er mehrere Jahre älter sein als ich – Mitte dreißig oder so. Er sprach fließend Spanisch
und konnte sein Englisch mit einem halben Dutzend von Akzenten anreichern.
All diese Eigenschaften halfen bei seiner Tätigkeit, aber es war die Körpersprache, die ihn zu einem wirklich guten Undercover-Cop machte. Er konnte ebenso leicht den lässigen Gang so vieler gut aussehender hispanischer Männer annehmen wie mit der nervösen Energie eines Drogenabhängigen umhertänzeln.
Nach einer Weile akzeptierte er, dass ich seine Verkleidungen immer durchschauen konnte; sogar solche, die seinen Boss und, wie er behauptete, sogar seine eigene Mutter hinters Licht führten, und bis dahin waren wir längst Freunde. Er kam weiterhin mitunter auf eine Tasse Kaffee oder eine heiße Schokolade und ein Schwätzchen unter Freunden vorbei, wenn er in der Nähe zu tun hatte.
»Du siehst sehr jung und sehr machomäßig aus«, sagte ich. »Sind die Ohrringe der neueste Look bei der Polizei? Die Cops in Pasco haben zwei, also müssen die Bullen von Kennewick vier haben?«
Er grinste mich an, und das ließ ihn gleichzeitig älter und unschuldiger aussehen. »Ich habe die letzten Monate in Seattle gearbeitet«, erzählte er. »Ich habe auch eine neue Tätowierung. Zum Glück da, wo meine Mutter sie nie sehen wird.«
Tony tat immer so, als lebte er in Angst und Schrecken vor seiner Mutter. Ich war ihr nie selbst begegnet, aber er roch nach Glück, nicht nach Angst, wenn er von ihr sprach, also wusste
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