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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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hätte.
    Manche Kinder blieben nur einen Tag, andere eine Woche oder ein paar Monate. Doch wenn die Heimleiterin zu dem Schluss kam, dass jemand gut hier hineinpasste, musste derjenige bis zum sechzehnten Geburtstag ausharren. Ihre Entscheidungen schienen willkürlich zu sein, keiner bestimmten Logik zu folgen und nur dem Zweck zu dienen, Leid zuzufügen. Sie trennte Geschwister und Freunde. Niemand durfte im Haus wohnen, bis er volljährig wurde. Ich konnte weder ein Muster noch nachvollziehbare Gründe erkennen, warum sich manche Kinder offenbar für das Elend hier eigneten, andere hingegen von unsichtbaren, aber angeblich traumhaften Familien adoptiert wurden. Ms. Asura hatte mir die wenigen Male, die ich um eine Verlegung gebeten hatte, versichert, dass ich genau hierher gehörte. Dabei hatte sie angedeutet, ich hätte wegen meiner Herkunft keine bessere Unterbringung verdient. Außerdem weigerte sie sich, mir zu viel über die anderen Kinder zu verraten, um mich nicht aufzuregen. Als ich mich nach Kirian erkundigte, einem Jungen, den ich von ganzem Herzen geliebt hatte, erwiderte sie, ich würde ihn bald wiedersehen.
    »Los, Juliet, noch eine Geschichte. Bitte!« Bodie rieb sich die Augen und kämpfte gegen den Schlaf, während die anderen längst eingenickt waren.
    Ich erzählte glückliche Geschichten, in die ich goldene Fäden der Harmonie, Liebe und Wärme spann. Nichts Böses, keine Dunkelheit. Die Guten gewannen immer. Und jede Geschichte endete mit einem wundervollen Neuanfang, in dem für gewöhnlich eine richtige Familie eine Rolle spielte. Da mein Nacken steif war und weh tat, streckte ich den Rücken durch, um die Schmerzen zu lindern. Ich fühlte mich, als würden jeden Tag Teile von mir abbrechen und sterben. Ich musste eine Lösung finden. »Okay, noch eine. Aber dann machen wir das Licht aus.«
    An den Tagen und in den Nächten, wenn jemand gestorben war, fiel es mir ungewöhnlich schwer, mich zu konzentrieren. Dennoch nahm ich mich zusammen und erfand eine Geschichte über Bonbonländer und Zahnfeen.
    Sema hatte gestern einen Milchzahn verloren. Als sie heute Morgen aufgewacht war, hatte er sich wie durch ein Wunder in einen Vierteldollar verwandelt. Natürlich hatte ich das Zauberkunststück vollbracht. Ich glaubte nicht an Märchen. Nicht mehr. Dennoch wollte ich, dass diese Kinder so lange wie möglich einem unsichtbaren Guten vertrauten. Wenn ich die Möglichkeit hatte, horchte ich die alten Leute nach ihren Familiengeschichten und Legenden aus. Ich lernte viel durchs Zuhören.
    Nicole schlief auf dem Speicher bei den Kindern und nahm mir den Großteil der nächtlichen Mutterpflichten ab: das Trösten nach Alpträumen, das Wechseln der Bettwäsche, wenn sich jemand eingenässt hatte, das Verabreichen von Wannenbädern und das Zähneputzen. Ohne sie hätte ich es nie geschafft.
    Mit den Hausregeln wurden häufig gleich Schauergeschichten mitgeliefert.
Rufe niemals einen Krankenwagen. Unter gar keinen Umständen.
Einmal, vor langer Zeit, war ein Insasse gestürzt und hatte sich einen offenen Beinbruch zugezogen. Da die Kinder sich nicht zu helfen gewusst hatten, hatte jemand die Notrufnummer gewählt. Der verletzte Junge und das Kind, das angerufen hatte, wurden im Krankenwagen weggebracht. Beide kamen nie zurück. Nachts wurde geraunt, die Heimleiterin hätte die Kinder im Krankenhaus besucht und sie ermordet. Den Jungen mit dem Beinbruch, weil er wegen seiner Dummheit nun monatelang Pflege brauchen und als Arbeiter ausfallen würde, und die Anruferin, da sie es gewagt hatte, fremden Menschen zu erzählen, dass es im DG alles andere als liebevoll zuging. Kirian berichtete, alle Kinder hätten bei der Beerdigung anwesend sein und sich die Gräber ansehen müssen. Als Warnung. Er war damals schon hier gewesen, ich noch nicht.
    Ich seufzte und lockerte meine Hände, weil ich immer wieder Krämpfe in den Fingern bekam. »Gute Nacht, Kinder. Bis morgen. Vergesst nicht …«
    »… dass wir geliebt werden«, murmelten sie, den Daumen im Mund oder an abgegriffene Stofftiere gekuschelt. Ich wollte, dass sie mit Hoffnung aufwuchsen und daran glaubten, dass die Welt da draußen gut war. Obwohl ich diese Welt auch nur aus meinen lebhaften Träumen kannte, wusste ich, dass es sie gab. Und deshalb versuchte ich, sie hier zu erschaffen und Gestalt annehmen zu lassen. Hoffnung war das Einzige, was ich den Kindern geben konnte. Das und Essen, heimlich gekocht und die Aromen der ganzen Welt in sich vereinend.

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