Meridian - Flüsternde Seelen
die Farben und die Lichtbrechung die Dunkelheit, so dass das Böse zu einem Haus, in dem sie zum Schutz hängen, keinen Zutritt findet. Auf jeden Fall sind sie eine nützliche Sache. Wer es sich leisten konnte, nahm sie in die Neue Welt und auf alle wichtigen Reisen mit.«
»Okay.« Ich nickte.
»Aber das Spannende an Mas Karton war, dass ich auf andere Legenden stieß, die lauteten, die Kugeln hätten überhaupt nichts mit bösen Geistern zu tun, sondern sendeten Signale an Engel und ähnliche Wesen, um ihnen mitzuteilen, dass sie sich innerhalb dieser vier Wände ausruhen und Trost finden könnten. In den Aufzeichnungen meiner Familie steht, die Hexenkugeln zögen die Engel des Guten Todes an. Sie gäben dem Licht ein Zeichen, dass die Dunkelheit hier vertrieben würde. Dass das Fenster zwischen Leben und Tod immer offen sei. Außerdem dienten sie als Warnung vor dem Schlechten Tod, indem sie sich vor dem Eintreffen der Dämonen verdunkelten.«
Er sprang auf, holte eine Kugel, brachte sie mir und hielt sie mir hin. Doch ich wagte nicht, danach zu greifen. Tens nahm sie.
»Sehen Sie den kahlen Winterbaum da drin?«
»Klar«, brummte Tens. Ich nickte.
»Diese Abbildung stellt den Baum des Lebens dar, ein wichtiges Symbol, das der Kugel die Macht verleiht, Signale auszusenden.« Er hielt inne und starrte in die Kugel. »Eine bessere Theorie fällt mir zumindest nicht ein. Es könnte auch ein Zusammenhang mit dem Spruch bestehen, den man bei der Herstellung des Steins aufsagt.«
»So als ob man Batman herbeiruft?« Ich schnaubte.
»Vielleicht. Erklären Sie es mir.« Ein ehrfürchtiger Ausdruck trat auf sein Gesicht.
»Das kann ich nicht«, erwiderte ich, obwohl ich ihm den Gefallen gern getan hätte.
Seine Begeisterung wurde von Enttäuschung abgelöst. »Nun, ich habe wenigstens versucht herauszufinden, wie man bei jeder Kugel genau diese Abbildung hinbekommt. Es funktioniert nicht bei allen. Und die Menschen lieben sie. Viel mehr als die schlichten, gewöhnlichen Glaskugeln, die ich sonst mache. Nehmen wir zum Beispiel Fischerboote. Ich dachte, sie gefielen den Leuten, bis ich anfing, diese Kugeln zu blasen. Sie werden davon magisch angezogen. Aber Sie, Sie reflektieren das Licht, brechen es und strahlen es aus. Sie leuchten. In Ihrer Gegenwart funkeln die Kugeln.«
»Sie ist warm«, flüsterte Tens mir zu.
Ich griff nach der Kugel und wog sie in der Handfläche. »Wie ein Herzschlag.«
Tens nickte.
»Haben Sie es bemerkt? Als Sie vor dem Laden erschienen, war es, als stöpsle man eine Lichterkette ein«, fügte Rumi hinzu.
»Haben Sie es daran erkannt?«, fragte ich.
»Wie durch ein Frühwarnsystem. Es war das erste Mal. Aber ich habe die Erlebnisse anderer Künstler gesammelt. Es gibt viele Anekdoten und Episoden, die zurück bis ins alte Rom, nach China und zum ersten Entstehen von Kunst überhaupt reichen. Also, sind Sie es?«
»Was sollen wir sein?«
»Ein Fenster des Lichts? Ein Engel? Der Gute Tod? Und ein Aufpasser?«
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Kapitel 5
Juliet
M ein Lieblingszimmer im DG zeigte nach Osten und war deshalb jeden Morgen von Sonnenlicht durchflutet. Die hellgrün tapezierten Wände erinnerten mich an eine Kreuzung zwischen Fotos von der Karibik und Eiscreme mit Pfefferminz-Schoko-Geschmack. Wir nannten es das Grüne Zimmer. Alle Zimmer hatten Namen.
Bei meiner Ankunft, als ich es noch nicht besser wusste, dachte ich, dass das Grüne Zimmer meines werden würde. Doch bald erfuhr ich die Wahrheit: Wir Kinder schliefen in den alten Dienstbotenzimmern in der Mansarde, wie bei den Gebrüdern Grimm.
Die Möblierung war auf den ersten Blick glänzend und weiß und verbreitete eine verblasste Eleganz. Aus der Nähe betrachtet sah man jedoch, dass sie einfach nur abgenutzt war. Vor den bis zum Boden reichenden Fenstern hingen vergilbte Spitzengardinen. Die Wände wurden von fahlen Drucken mit eingerollten Ecken geziert, die Ballerinas von Degas zeigten. Das Bett war ein reizendes Doppelbett mit Pfosten, die geschwungen waren wie Balustraden. Vor vielen Jahren hatte ich drei Nächte in diesem Bett geschlafen. Im Moment schlief Mr. Draper dort. Zumindest bis er sterben würde.
In einer Ecke standen ein kleiner Schreibtisch für die Hausaufgaben und ein riesiges antikes Puppenhaus. Ich staubte sie ab, obwohl nie jemand hier spielte oder seine Hausaufgaben machte. Es war alles nur Kulisse.
Meine Kleider wurden weder im Schrank aufbewahrt, noch lagen sie gefaltet in den Kommodenschubladen, sondern
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