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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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meinem Leben erkannte kein Mensch überhaupt eine Notwendigkeit.
    Endlich schleppte ich meinen bis in die letzte Zelle ausgelaugten Körper zu der kleinen Tür unter der Haupttreppe. Ich hatte in der niedrigen Abstellkammer eine Luftmatratze hinter den Putzmitteln und Papierhandtüchern versteckt. Diese etwa dreihundertfünfzig Quadratzentimeter, die nur mir gehörten, waren mein Stück vom Paradies. Angesichts der Umstände war es ziemlich bequem. Der einzige Haken daran war, dass ich mich nur selten hier aufhalten konnte und nie lange genug wach war, um die wenigen Momente des Alleinseins zu genießen.
    Ich schlich mich hinein und zwängte mich zwischen Toilettenpapierstapeln hindurch bis in die hinterste Ecke.
    Mini erwartete mich schon schnurrend. Ich ließ mich auf die schlaffer gewordene Luftmatratze fallen und nahm mir vor, sie morgen auf Lecks zu untersuchen. Nach wenigen Stunden Benutzung war sie stets völlig platt gedrückt. Doch heute Abend war ich zu müde, um mich darum zu kümmern. Ich rollte mich auf die Seite. Mini beobachtete mich unverwandt. Ihr Schwanz schlug hin und her wie eine Mischung aus Metronom und Staubwedel. Als ich endlich nicht mehr herumrutschte, um eine für meine schmerzenden Gelenke bequeme Liegeposition zu finden, kam sie zu mir herübergetrippelt.
    Mini war nicht nur für die Toten da. Seit über einem Jahr kam sie nun schon jede Nacht, um sich an mich zu kuscheln, wenn ich schlief. Vermutlich jagte sie die restliche Zeit in den Feldern und Wäldern rings um das DG . Doch wenn jemand dem Tod nah war oder ich in Richtung Bett schlurfte, war es, als hätte sie eine unsichtbare Macht an meine Seite gerufen.
    Nachts schmiegte sie sich in meine Arme, so natürlich, wie meine Haut mit den Muskeln darunter verbunden war. Ihr Herz schlug im Gleichtakt mit meinem und so stetig wie das Tropfen eines Wasserhahns. Den Kopf schob sie unter mein Kinn, den Oberkörper drapierte sie auf der Innenseite meines Arms.
    Ich lag auf der Seite, zog die Beine unter ihrem Schwanz an, legte die Hand zwischen ihre Vorderpfoten und stützte mit den Fingern ihr Kinn. Ich hielt sie fest wie einen Teddy.
    Mit Mini neben mir schlief ich ruhiger. Meine Träume wurden weicher, verschwommener und leichter als vor ihrer Ankunft. Nur dann verschwand die brennende Kälte, die mir in Fingern und Zehen schmerzte. Abends waren meine Fingerknöchel normalerweise so geschwollen und steif, dass ich die Hände nicht mehr benutzen wollte. Doch wenn ich Mini streichelte, ließ die Schwellung nach. Mit einem Seufzer atmete ich meine qualvolle Einsamkeit in ihr geschecktes Fell. Ich schnupperte den pilzähnlichen Geruch nach Erde und Harz der freien Natur, das warme Sonnenlicht und das silberne Mondlicht, die lakritzeschwarze Dunkelheit und das zuckrige Leuchten, die ihr anhafteten.
    Wieder einmal fragte ich mich beim Einschlafen, was ich getan hatte, um so ein Leben zu verdienen.
    Eines Tages, mit zwölf, hatte ich die Vordertür des DG geöffnet. Missionare standen vor mir, die mir erklärten, Gott liebe mich und finde mich vollkommen. Glaubte ich an Gott? Wo war er? Warum ließ er so etwas zu? Weshalb unternahm er nichts? Die Heimleiterin hatte mich verprügelt, bis ich blutete, weil ich den Missionaren aufgemacht hatte. Wieder und wieder musste ich ihr nachsprechen, es gebe keinen Gott, keine Gebete und keinen Ausweg für die Bösen und Dummen.
    Ich hatte versucht zu hoffen. So lange hatte ich auf ein Zeichen gewartet, um glauben zu können. An etwas oder jemanden, der zu mir hinunterblickte und wusste, wie meine Geschichte ausging und warum sie so und nicht anders geschrieben worden war.
    Tränen durchnässten die löchrige Decke, die ich mir, zum Kissen gefaltet, unter den Kopf geschoben hatte. Schnurrend leckte Mini mir das Gesicht und zerkratzte mir bei dem hastigen Versuch, mich zu trösten, mit ihren Krallen die Wangen.
    Es kann einfach keinen Gott geben. Auch kein Schicksal. Oder Magie.
    Als ich aufwachte, war Mini fort. Wie immer, bis wieder jemand in den Zimmern über mir auf der Schwelle des Todes stand.

[home]
    Kapitel 6
    S ind Sie ein Guter Tod? Ein Fenster des Lichts?«, wiederholte Rumi mit leuchtenden Augen.
    Tens und ich wechselten Blicke, während Rumis Frage zwischen uns in der Luft hing. Das hier war unbekanntes Terrain. Sollten wir es ihm verraten? Konnten wir ihm vertrauen? Durften wir jemanden in unsere Verschwörung des Schweigens einweihen? Aber doch nicht wenige Minuten nach dem Kennenlernen. Oder?

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