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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Geschmacksnoten, die von den Familiengeschichten der Menschen kündeten, die hier im DG gestorben waren. Keine Ahnung, ob ich begabt oder besessen war, doch ich kannte die Zubereitungsweisen und die Kombination von Zutaten aus dem Wissensschatz der alten Leute, mit denen ich Umgang hatte.
    Nicole folgte mir hinaus auf den Flur. Sie plagte sich wirklich ab, um mich zu entlasten, und ahnte offenbar schon vor mir, was nun kommen würde. »Zutaten?«
    »Zitronengras, thailändisches Basilikum, Kokosmilch«, zählte ich auf. Obwohl ich den Geschmack von Mrs. Mahoneys Gericht schon auf der Zunge hatte, war ich noch nicht sicher, wie es letztlich ausfallen würde.
    »Ein Curry? Lecker.« Sie lächelte.
    »Vielleicht.« Ich hatte mich noch nicht entschieden. Zuerst machte ich mich auf den Weg zur Wohnung der Heimleiterin, um mir meine abendliche Tirade abzuholen.
    Die Heimleiterin schien mit jedem Tag mehr in die Breite zu gehen, so dass ich mich fragte, ob sie bei einem Zusammenstoß mit einer scharfen Kante wohl platzen würde wie ein Ballon. Sie funkelte mich finster an. »Wird langsam Zeit. Warum dauert das bei dir so lange? Glaubst du, ich hätte nichts Besseres zu tun, als auf dich zu warten?«
    »Nein, Ma’am.« Ich biss mir auf die Zunge, während ich zusah, wie sie Bleichcreme auf ihren Damenbart und die Gesichtsbehaarung auftrug, die ihr Dreifachkinn zierte.
    »Warum hast du Mrs. Mahoney nicht in Ruhe sterben lassen und stattdessen deine Arbeit erledigt? Meinst du, sie hätte dich bemerkt oder sich dafür interessiert, ob du nun da bist oder nicht? Wie viele der heutigen Erledigungen musst du morgen nachholen?«
    Da ich den Mund hielt, sprach sie einfach weiter. Die Heimleiterin war ein Mischmasch aus den verschiedensten körperlichen Merkmalen, die ihr Gewicht zu ihrem geringsten optischen Problem machten. Ich hatte nichts gegen ein paar Kilo mehr. Schließlich aß ich leidenschaftlich gern, und das eine ging meist mit dem anderen einher. Allerdings war ihr abstoßendes Äußeres das genaue Spiegelbild der sadistischen Ader, die sie von einem menschlichen Wesen in ein wabbeliges Fettgebirge verwandelt hatte.
    »Hast du dir alles notiert? Ist dir überhaupt klar, wie beschäftigt ich bin? Ich habe den Verdacht, dass du deine Pflichten hier nicht ernst nimmst. Soll ich Ms. Asura bitten, dich anderswo unterzubringen? Soll ich? Soll ich? Soweit ich gehört habe, ist in der Stadt gerade ein Kinderhändlerring aufgeflogen. Vielleicht hättest du es ja gern, dass ich auf diesem Weg ein Zuhause für dich finde. Sicher wimmelt es jetzt von frustrierten Kunden, die kein Mädchen mehr abgekriegt haben. Und schließlich hast du sehr bald Geburtstag.« Sie hielt inne, damit ihre Drohung sich setzen konnte. »Sieh den Tatsachen ins Auge, Juliet. Deine Mutter wollte dich nicht. Niemand will dich, weil du unfähig, dumm und lästig bist.«
    Ich konnte den Text in Gedanken wortwörtlich mitsprechen, denn er änderte sich nie. Unfähig. Dumm. Lästig. Offenbar hatte ich geblinzelt; sie merkte auf.
    »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du den Mund aufmachen musst? Wirst du also morgen eine Stunde früher mit der Arbeit anfangen, weil du mich heute aufgehalten hast?« Ohne auf meine Antwort zu warten, rauschte sie empört hinaus. Allerdings ging es ohnehin nie um meine Antworten, sondern nur um die sinnlosen Fragen und Anschuldigungen, die sie mir entgegenschleuderte.
    Wenigstens hatte sie mich heute Abend nicht geschlagen. Für gewöhnlich machte ich mich um fünf an die Arbeit. Morgen also um vier. Als ob sie wirklich so früh aufgestanden wäre, um sich zu vergewissern, ob ich schon angefangen hatte.
    Ich warf einen Blick auf die Uhr. Elf. Mist. Schon wieder ein Tag fast um.
    Ich machte meine letzte Runde, um nach den Kindern und den Gästen zu sehen. Eine Nachtschwester hatte Dienst, die nie Fragen stellte und auch nie das Wort an uns richtete. Obwohl die Gesichter wechselten, war die Haltung »Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen« stets dieselbe. Einmal, vor sieben Jahren, kurz vor dem 4 . Juli, hatte die damalige Nachtschwester die Verhältnisse, unter denen wir schliefen, bei den Behörden gemeldet. Sie hatte versucht, mir zu entlocken, was sich hier wirklich tat. Doch selbst mit acht Jahren war ich klug genug gewesen, nicht wahrheitsgemäß zu antworten. Der Fall wurde nie weiterverfolgt.
    Es war sinnlos, auf Rettung zu hoffen. Im wirklichen Leben sprang niemand für einen in die Bresche. Und insbesondere in

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