Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
Vom Netzwerk:
bestand darauf, mit dem Rücken zur Wand und dem Gesicht zur Tür zu sitzen.
    Der Flur und die umgebaute Veranda waren mit Kunstwerken geschmückt: Drucke, Ölgemälde, Fotos in vergoldeten Rahmen, Bastschleifen und an der Wand befestigte Kerzenhalter. Unmengen von geschmackvoll arrangierten Kerzenleuchtern mit dünnen Wachskerzen, spitzenbesetzte Gästehandtücher, metallisch schimmernde Geschenktüten und verspielte Einwickelpapiere waren nach Farbe oder Anlass sortiert. Das seltsam vollgestellte und zugestapelte Haus erinnerte an ein Nachspeisenbüfett voller Köstlichkeiten. Ich spürte, wie sich eine wohlige Entspannung in mir breitmachte. An einem so freudigen Ort konnte unmöglich das Böse lauern.
    An der Decke der Veranda baumelten runde Glaskugeln in allen Farben. Ein tiefes Ockergelb, Butterkuchengelb, das Grün von frischem Gras, Kirschblütenrosa, Meerblau und Türkis. Die Kugeln hatten etwa die Größe einer Honigmelone, und jede enthielt ein Bild – ein kahler Winterbaum –, das in die Kugel eingeschlossen zu sein schien.
    Eine Weile saßen wir wortlos da und ließen die Einzelheiten dieser verzauberten Welt um uns herum wirken. Da ich Tens gut kannte, wusste ich, dass er am liebsten eine Schaufel genommen und hier ausgemistet hätte. In einer Umgebung, die er als überladen empfand, konnte er nicht nachdenken. Er hatte mir erzählt, sein größtes Problem in seiner Zeit bei meiner Tante sei gewesen, inmitten von seit Generationen liebevoll gehüteten Sammelobjekten leben zu müssen.
    Nun verdrehte er diskret die Augen.
    »Das erinnert mich an das Haus meiner Tante«, neckte ich ihn.
    »Was glaubst du, warum ich mich so oft in die Höhlen geflüchtet habe?«, flüsterte er und zwinkerte.
    In diesem Moment beschloss ich, dass wir uns einige Stunden Zeit nehmen würden, dieses Haus zu erkunden, weil ich ihm nicht glaubte. Er hatte meine Tante Merry angebetet und das Haus genau in dem Zustand belassen, der ihr gefiel. Bis zum Schluss. Und je länger wir hier blieben, desto später würden wir wieder im Auto sitzen, angetrieben von seinem Drang, stundenlang zu fahren, ohne Pause zu machen.
    »Mann, schaut mal. Sie leuchten.« Die Bedienung, ein Mädchen im College-Alter, zeigte nach oben, worauf wir wieder die Glaskugeln betrachteten. Und wirklich sah es aus, als verströmten die Kugeln ein inneres Licht. »Muss daran liegen, dass die Sonne genau im richtigen Winkel darauf trifft.« Sie zuckte wegwerfend mit den Achseln und legte die Speisekarten auf den Tisch. »Was kann ich euch bringen?«
    Tens und ich blickten einander absichtlich nicht an. Ich versuchte, nicht den Kopf zu heben und stattdessen in die Speisekarte zu schauen.
    Da der Himmel grau, bedeckt und voller Schneewolken war, konnte das Licht auf gar keinen Fall von der Sonne kommen. Aber woher dann? Von mir? Von ihm? Oder von jemand – etwas – völlig anderem?
    Tens räusperte sich und tippte mit dem Finger auf die Speisekarte. »Kannst du uns etwas empfehlen?«, fragte er.
    Ich lächelte und ließ mich ablenken, denn ich wusste genau, was nun gleich geschehen würde. Ich hatte es im letzten Monat oft genug miterlebt.
    Sie dachte sehr gründlich über die Frage nach. »Klar. Die Salatplatte ist der Hit, wenn man richtig Hunger hat. Die italienische Hochzeitssuppe ist auch spitze … und das heutige Tagesgericht ist gebundene Gemüsesuppe. Aber du darfst dir die Obstpastete oder eines unserer leckeren Desserts wie die Sahneéclairs nicht entgehen lassen. Ich gebe dir ein bisschen Zeit, um dich zu entscheiden.« Sie schickte sich zum Gehen an.
    »Moment«, hielt Tens sie zurück, »ich nehme jeweils eine Portion.«
    »Von allem?« Sie starrte ihn an, als hätte er sie höflich gebeten, den Laden ausrauben zu dürfen, erholte sich aber rasch und wandte sich an mich. »Und du?«
    Ich grinste. »Die Hochzeitssuppe und einmal Obstpastete bitte.« Ich hatte von beidem noch nie gehört, aber was konnte bei etwas, das mit Hochzeit oder Pastete zu tun hatte, schon schiefgehen?
    »Zum Trinken gewürzter Eistee?« Als wir nickten, steuerte sie wild kritzelnd auf die Schwingtür zur Küche zu.
    Ich unterdrückte ein Lachen. »Du bist unmöglich.«
    Tens zuckte mit den Achseln. »Hunger.«
    »Du hast immer Hunger.« Ich kicherte. In der kurzen Zeit, die wir uns kannten, war er etwa fünf weitere Zentimeter gewachsen. Außerdem hatte seine schlaksige Figur ein wenig an Muskeln zugelegt. Er war zwar noch immer entsetzlich mager, doch die Kanten waren

Weitere Kostenlose Bücher