Meridian
doch der hellblaue Stoff war zu einem Grauton verschossen. Die Haltung der Frau war majestätisch, wirkte auf mich aber gekünstelt. Ich musterte die geflochteneTasche, die sie geschultert hatte. Gut möglich, dass sie ihre gesamte irdische Habe enthielt.
Die Frau hastete auf den Schalter zu. Obwohl sie beim Reden wild mit den Händen fuchtelte, wandte der gelangweilte Fahrkartenverkäufer kaum den Blick von dem Fernseher ab, der, ohne Ton und mit körnigem Bild, neben ihm auf der Theke lief.
Die Frau schlug auf die Theke und stampfte mit dem Fuß auf. Allerdings konnte ihr Mischmasch aus Spanisch und Englisch dem Fahrkartenverkäufer keine Reaktion entlocken. Vielleicht verstand er sie ja mit Absicht nicht. Ich schloss die Augen, stützte den Kopf auf mein Gepäck und beschloss, dass mich die Probleme anderer Leute nichts angingen.
Was Mom wohl für mich eingepackt hatte? Wie konnte sie wissen, was ich in dieser Situation brauchte?
Die Debatte am Schalter wurde immer hitziger, während die Frau zunehmend verzweifelt gestikulierte. Ich wollte mich nicht einmischen. Obwohl ich fünf Sprachen gelernt hatte, hatte ich nie eine davon benutzt. Die Stimme des Fahrkartenverkäufers wurde schrill. Die Frau wurde allmählich hysterisch. Ihr Geld reichte nicht für die Fahrkarte.
Also gut
. Ich rappelte mich auf und wartete, bis das Blut in meine Beine gesackt und der Kontakt meiner Füße zum restlichen Körper wiederhergestellt war. Mein Gepäck schleifte ich hinter mir her, in der Hoffnung, der Streit würde vorbei sein, wenn ich die drei Meter zum Schalter nur langsam genug zurücklegte.
Keine Chance. Ich fragte, ob ich helfen könne.
Die Erleichterung, die sich im Gesicht des Fahrkartenverkäufers abzeichnete, war ein beinahe komischer Anblick.»Sie besteht darauf, irgendwohin in Colorado zu fahren, hat aber vierzig Dollar zu wenig. Ich kann ihr keine Fahrkarte verkaufen.«
Ich erklärte das der Frau in meinem gebrochenen Spanisch, worauf ihre Miene sich erhellte, da sie endlich verstanden worden war. Ich lauschte, als sie mir – viel zu schnell, als dass ich ihr vollständig hätte folgen können – eine lange Geschichte erzählte. Ihre Tochter bekäme Zwillinge. Sie habe nicht mehr Geld bei sich. Irgendetwas von einer Arbeitsstelle, die sie verloren hätte. Dabei lächelte sie mich an, als könnte ich die Lage retten.
Ob es sich um einen Trick handelte? Ein Märchen, um mir mein Geld abzuluchsen? Dennoch wühlte ich in meinen Taschen.
Die Frau hieß Marcela Portalso. Die vierzig Dollar bedeuteten ihr alles. Bestimmt hatte Mom mir für den Notfall mehr als zwei Zwanziger mitgegeben. Ich schob das Geld unter der Glasscheibe durch.
»No, no«,
protestierte Senora Portalso.
»Por favor.«
Bitte.
Sie wollte keine Almosen. Eine hart arbeitende Frau. Keine milden Gaben.
Ich kramte in meinem spanischen Vokabular und fand die richtigen Wörter für
Geschenk
und
Baby
. Keine Ahnung, ob die Reihenfolge stimmte.
Als der Verkäufer endlich die Fahrkarte herausrückte, breitete sich ein wunderschönes Lächeln auf dem Gesicht der Senora aus, und sie umklammerte das Ticket, als handle es sich um ein Geschenk Gottes.
Ich stand da und musste mich beherrschen, damit ich nicht anfing, nach meiner eigenen Mutter zu rufen.
Senora Portalso beteuerte, sie werde mir das Geld in Colorado City, Denver oder Podunk zurückzahlen. Ich trollte mich wieder in meine Ecke. Die Minuten vergingen. Dann wurde endlich unser Bus aufgerufen. Als ich meine Taschen im Gepäckraum des Busses verstaute, atmete ich Abgase ein, weil der Motor lief. Zehn weitere Fahrgäste scharten sich um den Bus wie ein Mückenschwarm. Jeder wollte als Erster an Bord. Ich hielt mich im Hintergrund und wahrte Abstand. Hoffentlich würde mich niemand ansprechen. Böse Männer oder rasende Geländewagen waren nirgendwo in Sicht.
Am liebsten wäre ich gar nicht eingestiegen. Ich war das Reisen nicht gewöhnt. Meine Eltern hatten es nur einmal mit einem Familienurlaub versucht, der in einer Katastrophe ge endet hatte.
Als Senora Portalso mich bemerkte, klopfte sie begeistert auf den Platz neben sich. Während ich mich in die enge Lücke zwängte, tätschelte sie mir die Hand.
»Muy linda«,
sagte sie immer wieder.
»Luz! Luz!«
Sehr hübsch. Licht. Licht.
Nach dem zehnten Mal hörte ich auf, mich bei ihr zu bedanken. Ich hatte ihr nicht viel zu sagen, denn die Fragen, die mich beschäftigten, konnte sie mir nicht beantworten.
Ich schlief unruhig, während die
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