Meridian
halten, Kleine.« Er knallte den Kofferraumdeckel zu und musterte mich forschend. »Geh in den Busbahnhof. Steig in den Bus. Sei vorsichtig. Kapiert?« Mit diesen Worten gab er Gas, raste davon und ließ mich auf dem Parkplatz stehen.
Da meine Arme unter dem Gewicht der Reisetasche und des Rucksacks schrecklich schmerzten, musste ich auf dem Weg zum Busbahnhof immer wieder eine Pause einlegen, um Luft zu holen. Dort angekommen, ließ ich den Blick durch den leeren Wartesaal schweifen und suchte mir dann ein abgelegenes Eckchen, um mich dort häuslich einzurichten. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand.
Nach wem halte ich Ausschau? Werde ich sie erkennen? Wer ist hinter mir her? Und warum?
Ich kramte in den Taschen des Mantels. Es war ein dicker Wintermantel, den ich noch nie gesehen hatte. Wenn Mom nicht meinen Namen auf das Wäscheetikett darin geschrieben hätte, ich hätte schwören können, dass er mir nicht gehörte.
Der Brief, den ich bei meiner Suche zutage förderte, war in der geschwungenen Handschrift meiner Mutter verfasst. Ich liebte ihre Handschrift, die so fließend und anmutig war. Sehnsucht ergriff mich, als ich zu lesen begann.
21. Dezember
Der sechzehnte Geburtstag meines kleinen Mädchens.
Liebe Meridian,
so schwer es mir auch fällt, diesen Brief zu schreiben, weiß ich, um wie viel schwerer es sein muss, ihn in Händen zu halten und zu lesen. Mir ist klar, dass Du so viel Trauer im Herzen hast wie ich. Ich wünschte, ich könnte Dir sagen, dass Du keine Angst zu haben brauchst. All die Jahre habe ich Dich beschützt, und nun frage ich mich, ob ich Dir damit Dein Schicksal nicht noch erschwert habe. Habe ich Dich mit meinem Bedürfnis, Dich so lange wie möglich bei mir zu behalten, vielleicht in große Gefahr gebracht? Der Zeitpunkt war nie der richtige. Ich dachte immer, Du würdest irgendwann Fragen stellen und Antworten von mir einfordern, aber Du hast Dich mit Deinem Leben einfach abgefunden. Mir ist klar, dass Dir diese unerwartete Situation Angst macht. Eigentlich wollte ich in diesem Sommer mit Dir zur Tante fahren, um bei Dir zu sein und Dir beizustehen. Aber die Zeit wurde knapp, und ich hoffe, Du wirst uns eines Tages verzeihen. Mein liebes Mädchen, Du bist jetzt eine Frau, und der Moment ist gekommen, dass Du Deinen Platz als Fenestra einnimmst, auch wenn Du mit diesem Titel noch nicht viel anfangen kannst.
Du bist etwas Besonderes, Meridian, das hast Du schon immer geahnt. Und ich auch. Schon bei Deinem ersten Schrei um Mitternacht vor genau sechzehn Jahren habe ich erkannt, dass Du etwas Bemerkenswertes bist, eine reinblütige Fenestra, die die Schöpfer mit einzigartigen Gaben und Talenten gesegnet haben. Allerdings gehen diese miteiner großen Verantwortung einher, denn wahre Größe erfordert gewaltige Opfer.
Die Schöpfer werden Dich auf Deiner Reise behüten. Ich kann nicht sagen, in welcher Form sie sich Dir zeigen werden, doch sie werden Dir helfen, damit Du wohlbehalten bei deiner Tante ankommst. Du sollst wissen, dass wir einander wiedersehen werden, wenn nicht in diesem Leben, dann im Jenseits. Außerdem sei versichert, dass man Dich schützen wird. Diese Reise ist notwendig, und andere vor Dir haben dasselbe empfunden wie Du jetzt. Einige von ihnen waren nicht stark genug, doch ich bin sicher, dass Du die Kraft eines makellosen Diamanten und den Mut besitzt, der aus tiefer Anteilnahme geboren wird.
Lerne von Deiner Tante, so viel Du kannst. Achte auf Dich. Höre auf Deine innere Stimme. Vergiss nicht, dass wir Dich immer lieben werden. Auch wir müssen fliehen, weil wir in Gefahr schweben. Komm unter gar keinen Umständen zurück. Das Haus wird leer sein.
Du fährst zu Deiner Großtante Merry in Revelation, Colorado. Nimm den Bus um sieben Uhr. Zwei Stationen nach Walsenburg steigst Du aus und wartest auf einen grünen Landrover. Du wirst ihn erkennen. Ich habe Dir zusätzliches Geld mitgegeben, falls unterwegs etwas passiert und damit Du Dir etwas zu essen kaufen kannst. Außerdem habe ich alles eingepackt, von dem ich glaubte, dass Du es behalten willst. Bitte verzeih mir, falls ich eine geliebte Kindheitserinnerung übersehen haben sollte. Ich habe mein Bestes getan. Dein Vater richtet Dir liebe Grüße aus. Sam wird Dich vermutlich mehr vermissen als wir anderen zusammen. Du gehörst zu den Auserwählten, Meridian. Dafür bin ich zwar dankbar, doch es macht mich auch traurig.
Es bedeutet, dass Du Deinen Weg ohne uns gehen musst. Denk daran, dass ich immer
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