Meridian
Wintersonne am Himmel aufging und dann hinter Gewitterwolken verschwand. Die Lichter der Schnellstraße sausten an uns vorbei, als wir Autohöfe und Raststätten passierten. Noch nie hatte ich an einem so schäbigen und beengten Ort geschlafen wie in diesem Bus. Ich stemmte die Knie gegen die Lehne des Vordersitzes, damit meine Füße nicht den Boden berührten.
Gesprächsfetzen wehten durch das dunkle Innere des Busses. »Eine Stelle … Familie … war noch nie in Colorado … wollen zu Disney World … nichts Besseres zu tun …« Alle hatten einen Grund, wenn auch nicht immer einen guten, um diese Reise anzutreten. Und was war mit mir?
Was geschieht, wenn ich einfach im Bus sitzen bleibe und nach New York oder nach Miami fahre? Wird mich jemand vermissen? Wird es jemanden interessieren?
Einige Male hielten wir an einem Diner, um Pinkelpause zu machen und eine Kleinigkeit zu essen. Als ich einmal aus dem Klo kam, hörte ich eine Stimme, die klang wie die meines Vaters und um mehr Kaffee bat. Ich fuhr herum, aber er war es nicht. Dabei hielt ich die ganze Zeit Ausschau nach möglichen Verfolgern. Die geheimnisvollen Warnungen meines Vaters, ich sollte vorsichtig sein, hallten mir noch in den Ohren.
In den frühen Morgenstunden teilte ich mir ein Sandwich mit der Senora, die mir dafür einen mehligen Apfel und einige selbstgebackene krümelige Kekse gab. Die Kekse erinnerten mich an meine Mutter. Ich musste mir die Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Was taten meine Eltern wohl gerade? Ging es ihnen gut? Hatte Sam noch mehr Angst als ich?
Oregon verschwand in der Ferne. Nevada und Utah kamen und gingen. Endlich überquerten wir die Staatsgrenze von Colorado. In Durango aß ich ein Milky Way. Schließlich war Mom nicht da, um es mir zu verbieten. Monte Vista war nicht weiter bemerkenswert. In Alamosa begann es, kräftig zu schneien. Ab Walsenburg fuhren wir nach Norden in Richtung Pueblo. Wie angewiesen, wartete ich auf meine Haltestelle. Mein Herz schlug schneller, währendich beobachtete, wie die Kilometer vorbeikrochen. Bis auf wattiges Weiß war kaum etwas zu sehen.
Allerdings fielen mir die vielen von blinkenden Lichtern erleuchteten Schilder auf. FINDE ERLÖSUNG IN REVELATION, verkündeten sie. FRÖMMIGKEIT IN EWIGKEIT. Alle paar Kilometer stand so ein Schild am Straßenrand. Wie merkwürdig. Ich fühlte mich fast ein wenig wie in Las Vegas.
Einen vollen Tag, nachdem ich in den Bus gestiegen war, erreichten wir endlich Revelation.
Revelation
– Erleuchtung – offenbar hatte hier jemand Sinn für Humor gehabt. Meine Schuluniform war zerknittert und mit den verschiedensten Flecken übersät. Vom vielen Sitzen taten mir die Beine weh. Ich sehnte mich nach einer Dusche. Und nach einem Bett. Will jemand behaupten, dass das zu viel verlangt war?
Haha, wie komisch.
Es war eiskalt und still, und dicke Flocken fielen, als wir aus dem Bus stiegen. Der Schnee bedeckte mein Haar und blieb in meinen Wimpern hängen.
»Der schlimmste Schneesturm seit hundert Jahren. Gut, dass wir noch rechtzeitig angekommen sind. Der Busverkehr wird nämlich eingestellt, bis sich das Wetter bessert. Ein paar arme Teufel werden das Weihnachtsfest wohl in einem kleinen Nest verbringen müssen, das sie niemals kennenlernen wollten.« Der dritte Fahrer auf dieser Reise kicherte hämisch, während er unser Gepäck auslud. Obwohl ich mich fragte, wie er nur so schadenfroh sein konnte, sprach ich ihn nicht darauf an.
Ich schulterte mein Gepäck und wunderte mich, wie es während der Busfahrt nur so viel schwerer hatte werden können.
Meine Anweisung lautete, auf einen grünen Landrover zu warten. Einen, den ich auf Anhieb erkennen würde. Da die Flocken zwar inzwischen kleiner geworden waren, aber schneller fielen, konnte ich kaum die Umrisse der Busse auf dem Parkplatz ausmachen. Nirgendwo etwas Grünes in Sicht.
Meine Finger und meine Nase fühlten sich bereits körperlos und taub an.
Werde ich ihn wirklich erkennen? Den Fahrer? Den Wagen? Vielleicht ist es ja Tante Merry selbst.
»Sie gehen besser rein, bevor Sie noch erfrieren.« Der Busfahrer klappte das Gepäckabteil zu und spuckte auf einen Schneehaufen, bevor er davonhastete.
Alle Fahrgäste begaben sich eilig ins Gebäude, wo es warm und hell war. Ich blieb allein stehen. Wie immer.
Kapitel 3
Nun stand ich also auf dem tristen, einsamen Parkplatz des Busbahnhofs von Revelation, doch Antworten oder gar die Erleuchtung ließen auf sich warten.
Deshalb trottete ich
Weitere Kostenlose Bücher