Merlin und der Zauberspiegel
am Wasser sein. Und fern von Drachen. Wie er hierher gekommen ist, weiß ich nicht. Aber sicher
ist es am besten, ihn wieder nach Hause zu schicken.«
Hallia schüttelte den Kopf und berührte den nassen Rücken des Ballymags. »Das ist töricht, glaub mir. Und außerdem ist dieser
elende Sumpf am anderen Ende der Insel.«
Ich hörte den Zweifel in ihrer Stimme und richtete mich auf. »Du glaubst nicht, dass ich es schaffe?«
»Nun . . . nein. Ich glaube es nicht.«
Ich schaute sie finster an, mein Gesicht brannte.
»Springen ist eine der riskantesten Zauberkünste. Das hast du mir selbst gesagt.«
Ich schlug mit der Faust aufs Ufer und sprühte Schlamm auf meine Tunika. »Du glaubst also, ich kann es nicht.«
»Was ist, wenn du ihn aus Versehen an den falschen Ort schickst?«
»Mir unterläuft kein Versehen.« Als ich meinen Schatten sah, der wieder den Kopf zu schütteln schien, biss ich mir auf die
Lippe. »Und wenn es zufällig doch passiert, wacht er wenigstens irgendwo auf, wo kein Drache auf ihn herunterstarrt.«
Vorsichtig legte ich den bewusstlosen Ballymag ins Schilf am Wasserrand. Dann packte ich meinen Stock und stand auf. Ich stellte
die Füße fest auf den Boden, drehte Hallia den Rücken zu und konzentrierte mich. Fast sofort spürte ich die Kräfte in mir,
die wie ein ausbrechender Vulkan an die Oberfläche drängten. Schließlich stimmte ich den komplizierten Singsang an, der die
hohe Zauberkunst des Springens beschwört.
Reise nah, wag dich weit –
Springe über Raum und Zeit.
Sternenmitte ist zu finden,
Wie Muirthemnars Träume künden;
Oder eines Reimes Klang,
Stimmig wie der Glocken Sang.
Ehre Weisheit, meide Streit –
Springe über Raum und Zeit.
Ein weißer Blitz entlud sich am Ufer. Das Wasser im Bach zischte in Dampf auf. Zugleich verschwand der Ballymag – zusammen
mit Hallia und mir.
IV
TODESWEH
T annennadeln! Ich rollte herum und spuckte sie aus. Über mir bogen sich dicke Zweige in die Höhe, sie sahen kräftig genug aus,
um den Himmel zu stützen. Und waren stämmig genug ihn zu verbergen: Nur ein paar Lichtflecke leuchteten durch das dichte Astgewebe.
»Gut gemacht, junger Falke.«
Ich krümmte mich, spuckte einen Brocken klebriges Harz aus und drehte den Kopf Hallia zu. Wie ich lag sie auf dem Rücken zwischen
Nadeln und abgebrochenen Zweigen. »Na schön«, gab ich zu. »Mein Sprung ist ein bisschen . . . danebengegangen.«
Sie setzte sich auf und schaute mich ernst an. »Ein bisschen, sagst du? Ich dachte, du wolltest den Ballymag wegschicken,
nicht uns. Jetzt sind wir hier in irgendeinem Wald und er ist nirgendwo in Sicht! Und hattest du es nicht auf das verhexte
Moor abgesehen? Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass du so schlecht gezielt hast!«
Sie schüttelte sich eine Nadel von der Nase. »Verglichen mit deiner Zielsicherheit beim Springen ist Gwynnias Zielsicherheit
beim Landen erstklassig.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Wo ist sie überhaupt?« Sie sprang auf die Füße und überschüttete
mich mit Zweigen. »Gwyyyniaaa«, rief sie, ihre Stimme flog in den Wald wie ein Sperber. »Meine Gwyyyniaaa.«
Keine Antwort. Hallia drehte sich besorgt nach mir um. »Oh, ich hoffe nur, es geht ihr gut. Sie würde mir antworten, wenn
sie mich hören könnte. Du glaubst doch nicht, dass wir . . .«
»Sie zurückgelassen haben?«, ergänzte ich und stand auf. Ich wischte Rinde und Nadeln von meiner Tunika. »Ich fürchte, es
ist möglich. Gut möglich. Ich sollte sie schließlich nirgendwo hinschicken.«
»Du solltest auch uns nicht wegschicken. Sie wird außer sich sein.« Sie schaute sich um. »Vielleicht ist sie hier in der Nähe,
nur nicht in Hörweite.«
»Wo auch immer
hier
sein mag«, murmelte ich.
Mit zurückgelegtem Kopf spähte ich in das Zweiggewölbe hinauf und atmete tief die Luft ein, die mit süßen Zedern- und Tannendüften
gewürzt war. Und mit noch etwas, merkte ich: einem leichten Geruch nach etwas Ranzigem oder Faulendem, der gleich unter der
Süße lauerte. Trotzdem sog ich die Aromen ein, denn auch wenn ich es unangenehm fand, mich nicht zurechtzufinden, genoss ich
es doch immer, im Wald zu sein. Je dunkler, umso besser. Denn je dunkler das Gehölz, umso älter die Bäume. Und je älter die
Bäume, umso geheimnisvoller und weiser waren sie nach meiner Erfahrung.
Eine Brise ließ die Nadelzweige rauschen und übersprühte mein Gesicht mit Tau. Plötzlich fiel mir ein anderer Tag in einem
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