Merlin und die Fluegel der Freiheit
egal.
Völlig unerwartet verdunkelte sich die Welt. Die silbernen und braunen Streifen der Feder wurden zu einem stumpfen, eintönigen
Grau. Ein neuer Windstoß, kälter als zuvor, brauste über mich hinweg. Ich umklammerte die Federnäste, damit ich nicht herunterfiel.
Aus den dunklen Wolken über mir kam ein gewaltiger Arm, mit Metallbändern zum Kampf gerüstet. Nein – kein Arm, sondern ein
Schwert, das drohend blitzte. Aber halt! Es war etwas noch Schlimmeres: ein grässliches Schwert, das zugleich ein Arm war!
Ich duckte mich auf meine Feder.
Die Klinge schlug durch die Wolken herunter. Im nächstenMoment würde sie die Feder spalten und mich mit ihr. Ich war unfähig sie aufzuhalten, unfähig meine eigene Zerstörung zu verhindern.
Immer näher kam das Schwert, seine Schneide färbte sich blutrot. Frisches Blut! Und jetzt hieb die Klinge in meinen Arm, schnitt
tief in meine Haut . . .
Da erwachte ich. Schaudernd, keuchend fasste ich nach meinem Arm. Durch die schweißnasse Tunika spürte ich meine Haut. Meinen
Arm. Während mein Herz hämmerte, sagte ich mir, dass es nur ein Traum gewesen war. Doch alles hatte sich so erschreckend wirklich
angefühlt.
Ich rollte mich herum und schaute mit meinem zweiten Gesicht hinauf in die Wolken. Ich sah kein Schwert, keinen tödlichen
Arm. So wenig wie irgendwelche Sterne. Nur Wolken, drohend und zunehmend.
Ich setzte mich mit rundem Rücken auf und spürte eine merkwürdige neue Spannung in der Luft. Meine Nackenhaare sträubten sich.
Immer dunkler wurden die Wolken, sie türmten sich aufeinander und ließen kein Licht mehr durchschimmern. Bald konnte ich keine
Bewegung mehr ausmachen, keine Andeutung einer Form oder Substanz. Das war ein Himmel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte,
die Heimat völliger Finsternis, die endgültige Nacht der Nacht.
Mein Schwert begann in seiner Scheide zu summen. Ich legte die Hand auf den Griff und spürte, wie die zunehmenden Schwingungen
durch meinem Arm bis in die Brust drangen. Dann hörte ich in der Ferne ein schwaches Grollen – wie Donner oder wie Wellen,
die an eine entlegene Küste schlagen. Ohne zu wissen warum, ahnte ich, dass etwas mich rief, mir ein Zeichen gab.
So leise wie möglich stand ich auf. Nach einem flüchtigen Blick auf meine schlummernden Gefährten stieg ichden steilen Hang hinauf. Von einer Sehnsucht getrieben, die ich nicht benennen konnte, hastete ich bergan und hielt mich an
Grasbüscheln fest, um schneller voranzukommen. Es dauerte nicht lange, da hatte ich laut keuchend den Gipfel erreicht. Ich
zog mich über den Rand des Felsens und stand allein auf dem Sternguckerstein, der Wind zerrte an meiner Tunika.
Das Donnergrollen verstärkte sich, während die Luft um mich herum vor Spannung knisterte. Plötzlich verschoben sich die Wolken
direkt über meinem Kopf, wurden stellenweise heller und teilten sich ein wenig. Vom pfeifenden Wind getrieben, vergrößerten
sich die hellen Flecken und bildeten Formen. Nein – eine bestimmte Form. Ein Gesicht.
Das Gesicht eines Mannes.
»Junger Merlin«, sprach das Gesicht in den Wolken, die Stimme dröhnte über den Wald und die fernen Hügel.
»Dagda«, flüsterte ich ehrfürchtig. Ich hatte den mächtigen Geist nicht mehr gesehen, seit wir vor Jahren, von den ewigen
Nebeln der Anderswelt umhüllt, zusammen unter den funkelnden Zweigen des Baums der Seele gestanden hatten. Damals wie jetzt
hatte er für sein Erscheinen die Gestalt eines gebrechlichen Mannes mit Silberhaar gewählt. Aber jetzt kam er mir viel älter
vor.
»Ich komme mit schlimmer Kunde«, verkündete er, seine Worte wurden vom Wind verweht. »Die Zeit größter Gefahr ist angebrochen.«
»Gefahr?«, fragte ich. »Für wen?«
Dunkle Wolken jagten über sein leuchtendes Gesicht und warfen Schatten auf dessen silbrige Falten. »Gefahr für dich, Merlin,
und für jene, die du liebst. Aber vor allem für die Welt, die dein Zuhause gewesen ist, für Fincayra.«
Ich schaute über die Schulter hinunter ins Dunkel, woRhia und Hallia im Schlaf lagen. Dann wandte ich mich wieder zum Himmel. »Wie, großer Geist? Wann wird diese Gefahr kommen?«
»Sie ist schon da.« Die volltönende Stimme hallte durch die Nacht. »Der größte Kampf und größtes Leid, fürchte ich, liegen
direkt vor uns.«
Eine dicke Wolke glitt über seine Augen und er wartete schweigend, bis sie vorbeigezogen war. »In der längsten Nacht des Jahres,
weniger als einen vollen Mond
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