Merlin - Wie alles begann
Dunkelheit geschlüpft.«
Branwen sah mich aufmerksam an, bevor sie antwortete. »Und«, fragte sie mit unsicherer Stimme, »ist der junge Vogel weggeflogen?«
Langsam schüttelte ich den Kopf. »Noch nicht. Aber bald.«
»Kann er nicht . . .« Sie musste schlucken, bevor sie weitersprach: »Kann er nicht noch einige Zeit bei seiner Mutter bleiben
und das Nest ein wenig länger mit ihr teilen?«
Ich runzelte die Stirn. »Alle jungen Vögel müssen wegfliegen, wenn sie es können.«
»Aber wohin? Wohin wird er fliegen?«
»In diesem Fall muss er sich selbst finden.« Nach einer Pause setzte ich hinzu: »Und dazu muss er seine eigene Vergangenheit
finden.«
Branwen griff sich ans Herz. »Nein. Das kann nicht dein Ernst sein. Dein Leben ist nichts mehr wert, wenn du zurückgehst .
. . dorthin.«
»Mein Leben ist nichts mehr wert, wenn ich hier bleibe.« Ich machte einen Schritt auf sie zu. Obwohl meine Augen nutzlos waren,
richtete ich sie mit meinem neuen Blick auf Branwen. »Wenn du mir nicht sagen kannst oder willst, woher ich komme, dann muss
ich es selbst herausfinden. Bitte versteh das! Ich muss meinen richtigen Namen wissen. Ich muss meine richtigen Eltern suchen.
Ich muss mein richtiges Zuhause finden.«
»Bleib«, bat sie verzweifelt. »Du bist erst zwölf! Und noch dazu halb blind! Du hast keine Ahnung von den Gefahren. Hör auf
mich, Emrys. Wenn du nur noch ein paar Jahre bei mir bleibst, wirst du ein Mann sein. Dann kannst du wählen, was du werden
willst. Ein Barde. Ein Mönch. Was du willst.«
Als ich nicht reagierte, versuchte sie es anders. »Was du auch tun willst, entscheide dich nicht jetzt. Ich könnte dir eine
Geschichte erzählen, etwas, das dir hilft diesen wahnsinnigen Plan zu durchdenken. Wie wäre es mit einer deiner Lieblingsgeschichten?
Vielleicht die über denwandernden Druiden, der die heilige Brigitta vor der Sklaverei rettete?« Ohne auf meine Antwort zu warten fing sie an: »Es
kam ein Tag im Leben der heiligen Brigitta, da . . .«
»Hör auf.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss meine eigene Geschichte erfahren.«
Mühsam stand Branwen auf. »Ich habe mehr zurückgelassen, als du je erfahren wirst. Weißt du, warum? Damit wir in Sicherheit
sind, du und ich. Reicht dir das nicht?«
Ich sagte nichts.
»Musst du das wirklich tun?«
»Du könntest mit mir gehen.« Sie lehnte sich Halt suchend an die Wand.
»Nein! Das könnte ich nicht.«
»Dann sag mir, wie ich dorthin zurückfinde.«
»Nein.«
»Oder wenigstens, wo ich anfangen soll.«
»Nein.«
Ich spürte den Drang, in ihren Kopf zu schauen, als wäre er das Innere einer Blüte. Dann war es, als würden Flammen in mir
entzündet, die meine Gedanken unter sich begruben. Ich erinnerte mich an mein Versprechen – und auch an meine Ängste.
»Sag mir nur eins«, bat ich. »Du hast mir einmal erzählt, dass du meinen Großvater kanntest. Hast du auch meinen Vater gekannt?«
Sie zuckte zusammen. »Ja. Ich kannte ihn.«
»War er, nun, war er kein Mensch? War er . . . ein Dämon?«
Ihr ganzer Körper versteifte sich. Nach langem Schweigen sagte sie mit einer Stimme, die aus einem anderenLeben zu kommen schien: »Nur so viel. Wenn du ihm je begegnen solltest, dann denk daran: Er ist nicht, was er scheinen mag.«
»Ich werde daran denken. Aber kannst du mir nicht mehr sagen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mein eigener Vater! Ich will ihn nur kennen.«
»Es ist besser, du kennst ihn nicht.«
»Warum?
Statt zu antworten schüttelte sie nur traurig den Kopf. Sie ging zu dem niedrigen Tisch mit ihrer Heilkräutersammlung. Geschickt
wählte sie einige aus und zerrieb sie zu einem groben Pulver, das sie in einen Lederbeutel an einer Schnur schüttete. Sie
gab mir den Beutel und sagte resigniert: »Das mag dir helfen ein wenig länger zu leben.«
Ich wollte antworten, aber sie sprach weiter.
»Und nimm das von der Frau, die wünschte, du würdest sie Mutter nennen.« Langsam griff sie in ihr Gewand und holte ihren kostbaren
Anhänger hervor.
Trotz meines eingeschränkten Sehvermögens bemerkte ich, wie er grün aufleuchtete.
»Aber er gehört dir.«
»Du wirst ihn mehr brauchen als ich.«
Sie nahm den Anhänger ab und drückte die juwelenbesetzte Mitte zum letzten Mal, bevor sie mir die Lederschnur um den Hals
legte. »Er heißt . . . der
Galator.«
Ich hielt den Atem an, als ich das Wort hörte.
»Pass gut auf ihn auf«, fuhr sie fort. »Seine Kraft ist groß. Wenn er dich nicht
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