Merlin - Wie alles begann
schon tot! Das ist kein Leben! Das ist eine endlose
Quälerei. Ich wäre lieber in der Hölle als hier.«
Sie fasste mich an den Schultern. »Sprich nicht so! Das ist Gotteslästerung!«
»Es ist die Wahrheit! Sieh nur, was deine Kräfte, die du eine Gabe Gottes nennst, für mich getan haben. Verflucht seien diese
Kräfte! Ich wäre besser tot.«
»Hör auf!«
Ich schüttelte sie ab, mein Herz hämmerte. »Ich habe kein Leben! Ich habe keinen Namen! Ich habe nichts!«
Branwen unterdrückte ihr Schluchzen und fing an zu beten. »Lieber Gott, Retter meiner Seele, Schöpfer von allem, was im großen
Buch des Himmels und der Erde geschrieben steht, bitte hilf diesem Jungen! Bitte! Vergib ihm. Er weiß nicht, was er sagt.
Wenn du nur sein Sehvermögen wieder herstellen würdest, selbst nur ein wenig, selbst nur für eine Weile, dann schwöre ich
dir, dass er deine Vergebung verdienen wird. Er wird nie mehr seine Kräfte gebrauchen, wenn das dafür nötig sein sollte! Nur
hilf ihm. Bitte hilf ihm.«
»Meine Kräfte nie mehr gebrauchen?«, spottete ich. »Fröhlich würde ich sie im Tausch für mein Sehvermögen hergeben! Ich wollte
sie sowieso nie haben.«
Verbittert zog ich an dem Verband auf meiner Stirn. »Und wie ist dein Leben jetzt? Nicht viel besser als meines! Das ist wahr,
auch wenn du es tapfer trägst. Die Nonnen magst du täuschen. Aber mich nicht. Ich weiß, dass du verzweifelt bist.«
»Ich habe meinen Frieden.«
»Das ist eine Lüge.«
»Ich habe meinen Frieden«, wiederholte sie.
»Deinen Frieden!«, rief ich. »Deinen Frieden! Warum sind dann deine Hände, die du ständig ringst, so wund gescheuert? Warum
sind deine Wangen so feucht von deinen . . .«
Ich beendete den Satz nicht.
»Großer Gott«, flüsterte sie.
»Ich . . . verstehe nicht.« Zögernd streckte ich eine Handnach ihrem Gesicht aus und strich ihr leicht über die Wange.
In diesem Augenblick wurde uns beiden klar, dass ich ihre Tränenspuren
spüren
konnte. Obwohl ich sie nicht mit meinen Augen sah, wusste ich dennoch, dass sie da waren.
»Auch das ist ein Gabe«, sagte Branwen ehrfürchtig. Sie umklammerte fest meine Hand. »Du hast das
zweite Gesicht
.«
Ich wusste nicht, was ich denken sollte. War das die gleiche Fähigkeit, mit der ich einst die Blütenblätter einer Blume geöffnet
hatte? Nein. Es war ein anderes Gefühl. Irgendwie weniger absichtlich. Und dass ich die Farben in der Blüte gesehen hatte,
bevor sie sich öffnete? Vielleicht. Doch auch davon unterschied sie sich. Sie schien mir eher . . . eine Antwort auf Branwens
Gebet zu sein. Ein Geschenk Gottes.
»Kann das sein?«, fragte ich kleinlaut. »Kann das wirklich sein?«
»Ja, Gott sei Dank.«
»Prüfe mich«, verlangte ich. »Halte ein paar Finger hoch.«
Sie gehorchte.
Ich biss auf die Unterlippe und versuchte ihre Finger wahrzunehmen.
»Zwei?«
»Nein. Versuch es noch einmal.«
»Drei?«
»Noch einmal.«
Ich konzentrierte mich und schloss dabei instinktiv die Augen, obwohl das natürlich keinen Unterschied machte.Nach einer langen Pause sagte ich: »Zwei Hände, nicht eine. Stimmt’s?«
»Ja. Jetzt . . . wie viele Finger?«
Minuten vergingen. Der Schweiß trat auf meine narbige Stirn und brannte auf der empfindlichen Haut. Aber ich gab nicht nach.
Schließlich fragte ich zögernd:
»Könnten es sieben sein?«
Branwen seufzte erleichtert auf. »Sieben stimmt.«
Wir umarmten uns. Ich wusste, dass sich in diesem Moment mein Leben völlig verändert hatte. Und ich vermutete, dass ich für
den Rest meines Lebens der Zahl sieben eine besondere Bedeutung zuschreiben würde.
Das Wichtigste war jedoch das Versprechen. Es spielte keine Rolle, ob ich, Branwen oder wir beide es abgelegt hatten. Ich
würde nie wieder versuchen Gegenstände mit geistigen Kräften zu bewegen. Noch nicht einmal ein Blütenblatt. Ich würde auch
nicht die Zukunft vorhersagen oder versuchen irgendwelche andere Gaben auszunutzen, die ich vielleicht einmal gehabt hatte.
Aber ich konnte wieder sehen. Ich konnte wieder leben.
Sofort fing ich an zu essen. Und hörte kaum mehr auf – besonders wenn ich Brotbrocken in Milch bekommen konnte, mein Leibgericht.
Oder Brombeermarmelade auf Brotrinden. Oder Senf, mit rohen Gänseeiern vermischt, was mir noch dazu Spaß machte, weil jeder
Nonne, die es sah, übel wurde. Eines Nachmittags fand Branwen auf dem Markt eine einzige saftige Dattel – die für uns so köstlich
war wie ein königliches
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