Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Merlin - Wie alles begann

Merlin - Wie alles begann

Titel: Merlin - Wie alles begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
Vom Netzwerk:
Festessen.
    Und mit dem Appetit lebte auch mein Geist wieder auf. Ich fing an die Gänge, die Kapellen, die Höfe von Sankt Peter zu erkunden.
     Das ganze Kloster und seine Kirchewaren mein Reich. Mein Schloss! Einmal, als keine Nonnen in der Nähe waren, schlich ich mich in den Hof und badete in dem
     flachen Teich. Das Schwierigste war, dabei nicht aus voller Kehle zu singen.
    Inzwischen arbeiteten Branwen und ich täglich viele Stunden daran, mein zweites Gesicht zu schärfen. Für die ersten Übungen
     benutzten wir Löffel, Tonschüsseln und andere alltägliche Gegenstände, die sie irgendwo im Kloster fand. Dann erprobte ich
     meine Fortschritte an einem kleinen Altar mit zarten Umrissen und Holzmaserungen. Schließlich wurde ich zu einem Kelch mit
     zwei Griffen und verschlungenen Gravuren an der Außenseite befördert. Obwohl ich dazu fast eine Woche brauchte, konnte ich
     schließlich die Inschrift am Rande lesen:
Bittet, so wird euch gegeben.
    Während ich übte, wurde mir klar, dass ich am besten sehen konnte, was stillstand und nicht weit weg war. Was sich zu rasch
     bewegte oder zu entfernt blieb, entschwand mir oft. Ein fliegender Vogel verschmolz einfach mit dem Himmel.
    Außerdem wurde mein zweites Gesicht schwächer, wenn es um mich herum dunkler wurde. In der Dämmerung konnte ich nur verschwommene
     Umrisse erkennen. Nachts sah ich gar nichts, es sei denn, eine Fackel oder der Mond verdrängten die Dunkelheit. Warum mein
     zweites Gesicht überhaupt Licht brauchte, darüber konnte ich nur staunen. Schließlich war es nicht wie das normale Sehvermögen.
     Warum wurde es dann von der Dunkelheit beeinträchtigt? Andererseits schien das zweite Gesicht teils innen, teils außen zu
     sein. Vielleicht war es in einer Weise, die ich nicht begriff, auf den Rest meiner Sehkraftangewiesen. Oder vielleicht brauchte es etwas anderes, etwas in mir, was die Prüfung nicht bestand.
    Das zweite Gesicht war also nicht annähernd so gut wie das Sehvermögen, das ich verloren hatte, obwohl es auf jeden Fall besser
     war als die ständige Finsternis zuvor. Selbst am Tag konnte ich nur dürftigste Andeutungen von Farben erkennen, die Welt war
     vorwiegend in verschiedenen Grautönen gemalt. So stellte ich zwar fest, dass Branwen jetzt einen Stoffschleier um Kopf und
     Hals trug und dass er heller war als ihr weites Gewand, aber ob der Schleier grau oder braun war, konnte ich nicht sagen.
     Ich vergaß bereits viel von dem, was ich seit unserer Ankunft in Gwynedd über die Farben der Dinge gelernt hatte.
    Aber ich konnte solche Schwächen hinnehmen. Oh ja – und das gern. Mit meiner neuen Fähigkeit ging ich mit Branwen zu den Kapellen
     oder den Mahlzeiten. Ich saß neben einer Nonne und unterhielt mich einige Zeit mit ihr, schien sie anzuschauen mit meinen
     Augen, und sie kam nicht auf den Gedanken, dass diese Augen nutzlos waren. Und eines Morgens lief ich tatsächlich im Hof herum,
     rannte im Zickzack an den Säulen vorbei und sprang direkt über den Teich.
    Diesmal unterdrückte ich meine Lust zu singen nicht.

IX
DER JUNGE VOGEL
    A ls mein zweites Gesicht schärfer wurde, half mir Branwen die lateinischen Texte in den religiösen Handschriften des Klosters
     zu lesen. Immer wenn ich einen dieser Bände öffnete, strömten mir starke Gerüche von Leder und Pergament entgegen. Und die
     Bilder, die noch stärker wirkten, trugen mich fort – zum Feuerwagen des Elias, zum letzten Abendmahl Jesu, zu den Steintafeln
     Mose.
    Wenn ich über diesen Texten brütete, vergaß ich manchmal alle meine Sorgen. Ich wurde eins mit den Worten, sah Taten und Farben
     und Gesichter mit einer Intensität und Klarheit, die ich mit meinen Augen nie hatte erreichen können. Und ich verstand wie
     nie zuvor, dass Bücher wirklich der Stoff der Wunder sind. Ich wagte sogar zu träumen, dass ich mich eines Tages mit Büchern
     aus vielen Zeiten und in vielen Sprachen umgeben würde, so, wie Branwen es einmal getan hatte.
    Mit jedem Tag wuchs meine Sehfähigkeit. Eines Morgens stellte ich fest, dass ich Branwens Gesichtsausdruck am Bogen ihrer
     Lippen und an dem Schimmer in ihren Augen ablesen konnte. An einem anderen Morgen, als ich am Fenster stand und zusah, wie
     der Wind die Äste schüttelte, wurde mir klar, dass der raschelnde Baum, in dem der Kuckuck lebte, ein ausladender Weißdorn
     war. Und eines Nachts bekam ich zum ersten Malseit dem Brand flüchtig einen Stern am Himmel zu sehen.
    In der nächsten Nacht stellte ich mich

Weitere Kostenlose Bücher