Merlins Drache 01 - Basilgarrad
Wind schlug auf diese Wolkenseen und schickte Gischtfontänen hoch. Tausende von Vögeln – Kormorane, Erpel, Pelikane, Papageientaucher, Gänse und Seeschwalben – flogen hoch, sie füllten die Luft mit ihrem Kreischen und Schreien, ihren zwitschernden Rufen.
Direkt durch sie hindurch pflügte der Windfänger. Federn rissen von Flügeln, Vögel drehten sich wild. Das Ungeheuer eilte vorbei wie eine riesige, knochige Wolke, brüllte wieder und übertönte die schrillen Schreie der Vögel ebenso wie die durchdringenden Töne der Harfensaiten.
Basil schaute zurück. Das Ungeheuer hatte sie fast erreicht. »Aylah, du …«
Er verschluckte die Worte, weil die Windschwester plötzlich nach unten abbog. Sie raste durch die Luft und tauchte in eine dicke schaumige Wolke, die sich über ein großes Stück Himmel breitete. Sofort umgaben sie dichte Nebel. Die Wolke bedeckte sie völlig, ihre dichten Dämpfe sperrten das Sternenlicht aus. Dann machte Aylah, was Basil am wenigsten erwartete.
Sie hielt an. Ihre einzige Bewegung war ein schwaches Vibrieren, genug, um Basil in der Luft zu halten.
Während Basil in der Finsternis schwebte, verstand er.
Verstecken! Wir sind tief in dieser Wolke verborgen, so tief, dass der Feind uns nie finden wird.
Sie warteten stundenlang – so kam es ihnen vor. Manchmal hörten sie das wütende Brüllen des Monsters, einmal fühlten sie, wie sein Körper hinter ihnen vorbeifegte, während er sich durch die Wolke grub. Aylah floh immer noch nicht.
Basil fror immer mehr im Nebel, aber das machte ihm weniger aus als die Vorstellung, von dieser schrecklichen Hand gepackt zu werden. Also sagte er nichts und hoffte verzweifelt, dass Aylahs Plan Erfolg haben werde. Außerhalb der Wolke wurde das Brüllen seltener, schließlich hörte es ganz auf.
Weitere Stunden vergingen, vielleicht sogar Tage. Basil leckte sich häufig die dünnen Lippen und befeuchtete so seine Zunge, deshalb spürte er keinen Durst. Nur die Kälte hielt ihn bis ins Mark seiner Knochengepackt. Er spürte nagenden Hunger, der an seinen Innereien kaute. Aber er wagte nicht, etwas zu sagen.
Endlich flüsterte Aylah die Worte, nach denen er sich so sehnte. »Jetzt sind wir sicher, kleiner Wanderer.«
Er strahlte, auch wenn seine Zähne klapperten.
Die Windschwester schoss voran und zerteilte die Nebelschwaden mit ihrem Atem. Als sie sich der Wolkenoberfläche näherten, brach Sternenlicht durch, hell genug, um ihnen zu versichern, dass die Nacht dem Tag gewichen war. Wassertröpfchen funkelten ringsum, leuchtende kleine Reiche des Nebels. Und in der wärmeren Luft verbreitete sich Aylahs Zimtatem und umwehte ihren Mitreisenden.
Ohne Vorwarnung brach ein zorniges Geschrei los. Aus dem kreisenden Nebel kam ein riesiges, wie von Fingern besetztes Maul. Es schnappte zu, Aylah und Basil waren in tiefster Finsternis gefangen.
So laut sie auch schrien, niemand konnte sie hören. Genau wie niemand sie finden konnte. Denn sie waren von einem Ungeheuer geschluckt worden, dessen Bauch nichts entfliehen konnte. Noch nicht einmal der Wind.
23
Was der Wind tun würde
Die Leute machen so ein unnötiges Getue um das Sterben. Dabei ist es einfach ein Teil des Lebens, wie das letzte Kapitel einfach ein Teil eines Buches ist. Trotzdem … wir können immer hoffen, dass es eine Fortsetzung geben könnte.
K ein Licht.
Keine Flucht.
Keine Möglichkeit, Merlin zu finden.
Diese Tatsachen bestimmten jetzt das Leben der Gefährten. Aber, erkannte Basil, als das knochenweiße Maul des Windfängers sich um sie schloss, es waren negative Tatsachen. Das Leben war nicht mehr aus den Fäden all seiner Sinne und Erfahrungen gewoben – und seinem überwältigenden Bedürfnis, Merlin zu warnen. Stattdessen war der Stoff des Lebens jetzt aus dem
Fehlen
von Dingen gemacht. Aus den mangelnden Fäden.
Kein Licht. Keine Flucht. Kein Merlin.
Das einzige Geräusch, das er außer Aylahs traurigen Seufzern und dem Klopfen seines eigenen kleinen Herzens hörte, war das gelegentliche
Tropf-Tropf
vonSchleim im Bauch des Windfängers. Seine Umgebung nahm er vor allem danach wahr, wie sie sich anfühlte: die glatte harte Oberfläche der großen Rippen des Ungeheuers und die zähen Schleimflüsse, die zwischen ihnen flossen.
Selbst sein liebster Sinn – der Geruchssinn – ging praktisch ins Leere. Trotz aller Anstrengungen fand er nur einen Geruch – einen schrecklichen Geruch und den ebenso schrecklichen Geschmack, der damit zusammenhing:
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