MERS
Zu jener Zeit arbeitete die Geliebte im Schichtdienst und tauchte oftmals am Ende von Maggis Tag auf, um sie nach Hause zu begleiten. Sie hatten linkslastige Ideale und lebten in der heruntergekommenen Gegend neben dem nicht mehr benutzten Fußballstadion. Maggi trug das Haar stoppelkurz und die Röcke bis zum Boden, und ich hätte ohne sie nicht überleben können. Wir waren beide am selben Tag staatliche Angestellte geworden. Ich war von Unikhem gekommen und sie direkt von der Sekretärinnenschule.
Mir fiel ein, daß ich Dr. Hannes anrufen sollte. Ja, die Polizei war sehr hilfreich gewesen. Ja, Anna ging es gut. Ja, mir ging es ebenfalls gut. Er plauderte nicht, er hatte ein volles Wartezimmer. Vielleicht hatte er angenommen, daß ich für eine Zapfstelle redete. Wir trennten uns herzlich.
Um zehn Uhr vierzig war ich mit den Ordnern durch. Ich legte sie in den Safe zurück, das relevante halbe Dutzend oder so obenauf, und verschloß ihn, indem ich die Scheibe herumwirbelte. Wenn die Kombination verändert werden mußte, würde Maggi wissen, wie man das tat. Ich wollte sie gerade hereinrufen, da hörte ich Natyas Kommen. Gewöhnlich hört man Natya, ehe sie eintrifft. Sie ist eine große, breite, russische Frau mit einer großen, breiten, russischen Stimme, das Klischee einer russischen Kugelstoßerin. Sie besitzt gleichfalls das klischeehafte russische Herz aus Gold. Zusammen mit herausragenden organisatorischen Fähigkeiten war das in einer Gruppe wie der unsrigen, bei arbeitsbesessenen Profis, mitnichten ein Klischee. Sie war in einer seltenen geistigen Übereinstimmung mit einem Archäologie-Professor an der Universität verheiratet und fast ebenso alt wie Gusso, ein Flüchtling aus der allerletzten Runde russischer Umwälzungen. Dr. Natalya Volkov war meine Projektleiterin. Ich hatte sie dem städtischen Krankenhaus abgeworben, wo sie völlig verschwendet gewesen war.
Sie betrat das Vorzimmer, im Schlepptau eine zornige junge Frau in schäbigem, militärischen Chic. »…Sehr schön. Sehr schön, Miss Unruhestifter. Hier ist sie also. Hier ist Dr. Kahn-Ryder. Aber ich verspreche Ihnen, wenn Dr. Kahn-Ryder der Presse etwas mitzuteilen hat, dann gewiß nicht durch Sie.«
Sie blieb vor meinem Schreibtisch stehen und ließ den Arm der jungen Frau los. »Eine Reporterin vom City Journal, Dr. Harriet. Sie hat an der Rezeption für einigen Ärger gesorgt.«
Das Mädchen zupfte ihre Uniformjacke zu irgendeiner Art von Form zurecht. Die grünen Aufschläge glänzten durch zu vieles Bügeln, und die Ärmelkanten waren sichtbar durchgewetzt. Das City Journal war ein winziges, sehr radikales Blatt und zahlte ganz deutlich nicht sonderlich gut.
Ich setzte mich zurück, ganz die Autorität. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Ich konnte es, ich konnte für ihre Karriere sorgen, aber ich tat es nicht. Sie war ein Ärgernis, genau das Richtige für ein ministerielles Leck, und weitere Ärgernisse folgten ihr auf dem Fuß. Für jemanden (die Ministerin?), der meine Bewegungsfreiheit einschränken wollte, gab es keinen besseren Weg: für eine Weile stünde ich jedes Mal dann knietief in Reportern, wenn ich das Gesicht zur Tür hinaussteckte.
Sie stampfte mit ihren Armeestiefeln auf und straffte dadurch die Stiefelschäfte. »Mein Name ist Hansen. Sie hatten gestern eine zwanzigminütige Dringlichkeitssitzung bei der Wissenschaftsministerin.«
»Stimmt nicht.«
»Dann bei ihrem Assistenten. Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten.«
»Ich meinte, es war nicht dringlich.«
»Stimmen wurden gehoben.«
»Stimmen wurden nicht gehoben.«
Wahrscheinlich ging das auf ihr Bandgerät. Es würde sich nicht lohnen.
»Vielleicht möchten Sie mir etwas darüber berichten.«
»Gewiß. Wir besprachen meinen Urlaub.«
»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht glauben.«
»Das dürfen Sie. Nun, Sie wissen den Weg hinaus, nicht wahr, also…«
»Dr. Kahn-Ryder, Ihr Forschungsprojekt verschlingt riesige Summen an Regierungsgeldern. Gelder der Bürgerinnen. Meinen Sie nicht, es sei an der Zeit, daß diese Frauen etwas dafür zurückerhalten?«
»Ich schlage vor, Sie stellen der Ministerin diese Frage. Sie ist Ihre gewählte Repräsentantin.«
»Dr. Kahn-Ryder, sind Sie gestern zum Rücktritt aufgefordert worden?«
»Meiner Erfahrung nach, Hansen, fordern Minister nicht auf, sie befehlen.«
»Das ist keine Antwort.«
»Mehr werden Sie nicht bekommen.«
»Dr. Kahn-Ryder, sind Sie nicht besorgt, daß…«
»Sie haben gehört, Hansen.«
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