MERS
zitterte am ganzen Körper.
»Warum später darüber reden, Kind? Warum nicht jetzt? Jetzt führ dich mir gegenüber nicht auch noch blauäugig auf, Harri. Diese Dinge sind wichtig.«
»Natürlich sind sie wichtig, Mama. Ich meinte einfach bloß…«
»Das Leben geht weiter, Harri. Oder ist das ein zu trivialer Gedanke für dich?«
Sie drückte Daniel die Schultern und küßte ihn linkisch auf die Wange. Dann ging sie in den Raum zurück.
»Wegen Papas Altersvorsorge.« Mama hatte auch ihre Bedürfnisse. »Brandt mag sich winden, aber sie werden sie ganz bestimmt herausrücken. Heutzutage zeigen sie ausgesprochen gern das fürsorgliche Gesicht des Kapitalismus. Es würde keinen guten Eindruck hinterlassen, eine arme, unschuldige Witwe an den Bettelstab zu bringen…«
Daniel hielt es nicht aus. Er zog die Schultern ein, während sie weiterredeten. Eine arme, unschuldige Witwe – lieber, Tränen vergießender Jesus, sie tanzte gerade auf Papas Grab.
Er sah zum Hafen hinaus. Wie konnte das alles aufhören? Die kleinen Schiffe unten auf dem Wasser sprangen ihm ins Auge, jedes einzelne hell und klar. Die Häuser auf der anderen Seite wirkten so nahe, daß er sie hätte berühren können. Das war wirklich. Tod war unwirklich. Papa konnte nicht aufhören. Das war völlig sinnlos.
Sie tanzte auf Papas Grab – sie rief Oma an, sie rief die Vikarin an, sie rief Brandt an, sie rief einen Anwalt an, sie rief ein Blumengeschäft an, sie rief wegen der Beerdigung an, sie rief das Krankenhaus an, sie rief die Polizei an, sie rief die Lokalredaktion der Zeitung an. Irgendwie überstand er den restlichen Abend. Harriet fabrizierte eine Mahlzeit aus der Tiefkühltruhe. Sie holte im ›Pelikan‹ sein Bier. Sie aßen zusammen am Küchentisch. Das Essen schmeckte wie Sägemehl, das Bier wie Pisse. Er konnte es nicht mit ansehen. Er wollte den Fernseher einschalten, doch Harri schüttelte den Kopf, wobei sie verstohlen auf ihre Mutter blickte.
Der Sergeant hatte ihm eine Woche Urlaub wegen einer dringenden Familienangelegenheit gewährt, er hatte gesagt, Daniels Mutter würde in dieser schweren Zeit seine Unterstützung benötigen. In Hab-Acht-Stellung im Kompaniebüro hatte Daniel ihm geglaubt. Aber, wie er irgendwo gelesen hatte, aus der Ferne war alles vom Zauber umgeben. Er würde gleich nach der Beerdigung gehen.
Seine Mutter hatte die Beerdigung auf morgen, elf Uhr vormittags, angesetzt. Es war kein großer Clan aus Familie und Freunden zu versammeln, lediglich Mrs. Hand von nebenan, die bei seiner Ankunft bei seiner Mutter gewesen war, und Oma, die bereits unterwegs war. Und irgendwer von der bescheuerten Kirche seiner Mutter, der den Gottesdienst abhielt. Sobald das vorüber war, wäre er auf und davon.
Er hielt sich an seinem Bier fest und merkte, daß es ihm in den Kopf stieg. Zur Schlafenszeit war er hinüber. Harriet half ihm die Stufen hinauf in sein Zimmer. Er fühlte sich deswegen mies – Harri hatte ihren Papa ebenfalls verloren, und sie war nur ein Kind.
Beim Erwachen am Morgen war sein Vater noch immer tot.
Bald nach dem Frühstück traf Oma von ihrer Insel ein. Sie war die ganze Nacht lang unterwegs gewesen, aber sie kümmerte sich um die drei, sogar um Harri, die den Tag völlig fertig angefangen hatte, kaum in der Lage, die Augen zu öffnen. Oma ließ Daniel das Wohnzimmer umräumen und seine Mutter und Harri Salate und Soßen mit Meeresfrüchten zubereiten, falls jemand nach dem Gottesdienst mit ihnen nach Hause käme. Sie bestellte den Motor-Leichenwagen ab. Papas Leichnam befand sich oben im Krankenhaus, auf dem Hügel oberhalb des Friedhofs, also konnten sie den alten Handwagen mit den hohen, schmalen Holzrädern benutzen. Oma kam aus der Stadt, aber sie war altmodisch: gab es für eine Sache eine örtliche Tradition, so wählte sie diese.
Daniel wußte, daß er den Wagen zu lenken und möglicherweise den größten Teil der Schieberei zu erledigen hätte, aber er protestierte nicht. Oma brachte ihn nicht so auf die Palme wie seine Mutter. Seitdem er zur Armee gegangen war, hatte er sie nicht gesehen, und in seiner Erinnerung war sie beträchtlich älter. Als erstes erzählte sie ihm bei ihrer Ankunft, wie leid ihr alles täte und wie traurig es wäre, daß sein Vater keine Familie hatte, die bei seiner Beerdigung anwesend war, und dann fragte sie ihn, ob er die Wünsche seines Vaters kennen würde. Als er erwiderte, seines Wissens nach hätte sein Vater keine Wünsche gehabt, funkelte sie seine
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