Messertänzerin
Reinigung von Mund und Fingern. Dabei herrschte absolute Stille im Raum, denn jedes noch so leise Geschirrklappern oder Hüsteln wurde durch Maitas strengen Blick bestraft. Als die Schulleiterin aber kurz vor Beendigung des Essens hinausgerufen wurde, schlug die Stimmung um. Wie immer. Mit einem Mal wurde geredet, gelacht, mit Essen geworfen und mancher Becher absichtlich so umgekippt, dass der Inhalt auf der Vesséla der Nachbarin landete. Die Lehrerinnen konnten das nicht verhindern, da sie den angehenden Tanas hierarchisch untergeordnet waren. Keine von ihnen hätte es je gewagt, das Fehlverhalten einer hohen Tochter anzuprangern, das stand nur Maita zu.
Divya fürchtete diesen Moment jedes Mal, denn es war immer eine günstige Gelegenheit für Racheakte. Schon vorher hatte Divya Sadas Blicke auf ihrem Nacken gespürt wie Nadelstiche, die jetzt in offenen Hass umschlugen. Eilig sammelte Divya Wasserschalen ein und wandte sich in Richtung Küche unter dem Vorwand, sie aufzufüllen. Dafür musste sie an Sada vorbei, und es geschah schneller, als Divya ausweichen konnte. Die Sechzehnjährige hatte ihr ein Bein gestellt, Divya stolperte und ging in die Knie. Dabei schwappte das Wasser aus den Schalen auf Sadas Schuhe.
»Sieh dir an, was du getan hast!«, kreischte Sada und sprang auf. Sie drückte ihren rechten Schuh auf Divyas Rücken, bis diese ganz am Boden lag. Sicherlich hätte sie sich gegen das zierliche Mädchen wehren können und einen Augenblick lang erwog sie ernsthaft diese Möglichkeit. Aber die Strafe dafür mochte sie sich nicht einmal vorstellen.
»Tief, tiefer, Tassari!«, grinste Sada von oben auf sie herab, griff nach einer Karaffe und goss lauwarmen Tee auf Divyas Haar.
Gleich darauf stand Jolissa auf und kippte den Inhalt ihrer Teetasse in Sadas Gesicht.
»So fühlt sich das übrigens an«, sagte sie ganz ruhig.
Schlagartig war es still im Saal. Man hätte einen Njurschal schweben hören können. Divya nutzte die Gelegenheit, um aufzuspringen und einen sicheren Abstand zwischen sich und Sada zu bringen.
»Du magst diesen Abschaum also?«, zischte Sada in die Stille.
Jolissa hob das Kinn. »Ja, warum nicht? Man hört so einiges darüber, dass auch dein Vater den Tassari-Frauen sehr zugetan ist.«
Sada wurde blass und hier und da war ein verstecktes Kichern zu hören. Dann ertönten Schritte auf dem Gang, und als Maita den Raum betrat, saßen alle Mädchen wieder mit durchgestrecktem Rücken und höflichem Lächeln an ihren Tischen.
Am nächsten Morgen wurde Divya zu Jolissa gerufen, um ihr die Haare aufzustecken. Geschickt trennte Divya eine dichte, blonde Strähne von den anderen, nahm sie zwischen die Finger und begann sie zu flechten, während ein munteres Licht um ihre Arme herumschwirrte.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie leise und wunderte sich selbst, dass es sie keinen Mut kostete, Jolissa anzusprechen.
»Weil kein Mensch so mit einem anderen umgehen darf«, antwortete Jolissa erstaunt. »Meine Mutter ist eineTana mit einem Haus voller Diener, aber sie würde niemals auf die Idee kommen, einen von ihnen so zu behandeln.«
»Leider darf Sada tun, was sie möchte.«
Jolissa wandte sich ruckartig um und griff nach Divyas Handgelenk.
»Du bist eine Dienerin, kein Abschaum. Lass dir das von niemandem einreden.«
Divya musterte sie. »Darf ich dir eine Frage stellen?«
Jolissa sah sie freundlich an. »Dafür brauchst du nicht meine Erlaubnis! Wenn wir allein sind, rede bitte einfach mit mir.«
»Wer sind die Tassari?«
Einen Moment lang war es still. »Hat dir das nie jemand gesagt?«, fragte Jolissa. »Deine Mutter vielleicht?«
Divya spürte plötzlich einen Schmerz irgendwo in ihrem Inneren. Dieses Wort hatte für sie bisher nie eine Bedeutung gehabt: Mutter. Ob diese Frau sich je gefragt hatte, was mit ihrer Tochter geschehen war?
»Maita hat mich gekauft, als ich vier Jahre alt war. An meine Eltern kann ich mich nicht erinnern. Aber Maita hat mir gesagt, dass sie keine Tassari waren, auch wenn ich dunkelhaarig bin.«
»Und Maita hat dir nie von deinen Eltern erzählt?«
»Nicht viel. Sie sagt, sie seien der Mühe nicht wert.«
»Und das glaubst du?«, fragte Jolissa erschrocken.
Divya zögerte. »Was soll ich von Menschen halten, die ihr eigenes Kind verkaufen? Maita sagt, sie waren Diener. Man hatte sie aus einem Palast hinausgeworfen, weil sie ohne Einwilligung geheiratet und ein Kind bekommen haben. Also mussten sie mich möglichst schnell wieder
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