Messertänzerin
loswerden, um Arbeit zu finden.«
Jolissa holte tief Luft. »Das klingt … als wären sie dir egal.«
Divyas Finger fuhren über die Zinken des Kamms. »Es ist lange her. Aber manchmal … stelle ich mir vor, dass die Geschichte gar nicht stimmt und dass etwas viel Geheimnisvolleres dahintersteckt.«
Jolissa zwinkerte ihr zu. »So wie du dich bewegst, bist du bestimmt die Tochter eines Fürsten, die von Dieben entführt und verkauft wurde.«
Divya erwiderte ihren Blick irritiert. »Wohl kaum. Und wer sind nun die Tassari? Sada ist nicht das erste Mädchen, das dieses Wort benutzt. Aber die anderen Dienerinnen reden nicht darüber.«
Jolissa runzelte die Stirn.
»Die Tassari haben schwarze Haare wie du. Sie sind ein Volk, das angeblich von weit her gekommen ist. Sie sind früher viel gereist, heißt es.«
Divyas Augen leuchteten auf. »Vielleicht stamme ich ja doch von ihnen ab. Mein größter Traum ist es, die Welt zu sehen!«
Jolissa schüttelte den Kopf. »Niemand darf reisen. Nicht mal mehr die Tassari. Sie leben in einem Viertel, das sie nur mit Ausnahmegenehmigung verlassen dürfen. Von den Bürgern bekommen sie all die Arbeiten zugeteilt, die sonst niemand machen möchte. Sie waschen, sie kehren, sie sammeln den Müll ein und tauchen nach Muscheln. Sie sind die ärmste Kaste der Stadt.«
»Und was war das für eine Geschichte mit Sada und ihrem Vater?«
Jolissa setzte sich wieder gerade auf den Stuhl.
»Das war eine dumme Beleidigung! Vergiss es undmach mir lieber die Haare, sonst kriegen wir noch beide Ärger!«
Divya nickte, aber in Gedanken war sie bei den Tassari. Und wenn sie nun doch von ihnen abstammte?
Am späten Abend nahm sie Jolissa mit auf die äußere Agida und zeigte ihr ihren Lieblingsort. Im zweiten Stock, wo der Holzsteg wie ein Käfig über der Straße hing, konnte man einen großen Teil der Stadt überblicken. Divya staunte jedes Mal wieder, wie riesig sie war, und auch Jolissa legte begeistert ihr Gesicht gegen die Holzwand mit den geschnitzten Ornamenten und ließ sich den Wind um die Nase wehen.
»Das große blaue Gebäude dort drüben ist der Regierungspalast des Fürsten. Unser Haus liegt gleich daneben, in einer Gasse rechts davon, ganz in der Nähe vom Großen Platz. Oh, sieh mal, man kann sogar das Lobean sehen! Das grüne Haus mit den Türmchen, das ist das beste Gasthaus von Pandrea!« Jolissa deutete noch auf einige Häuser, deren Namen Divya nichts sagten. Und schließlich auf einen hässlichen schwarzen Turm, angeblich die Überreste des abgebrannten alten Regierungspalastes, der auf einer Flussinsel gelegen hatte.
Das alles klang so aufregend! Divya beneidete das Mädchen. Was für sie selbst einfach nur draußen hieß, war für Jolissa eine ganze Welt mit faszinierenden Namen, Bildern, Erinnerungen. Immerhin zeigte sie ihrer neuen Freundin all diese Dinge, und dass es auch für sie aufregend war, bewies ihr wenig tanahaftes Hüpfen, wenn sie auf ein Gebäude zeigte. Zu Hause, erklärte sie, habe ihre Dienerin sie meist von den Fenstern zurückgehalten, wenn sie keine Maske trug. Und so empfand sie diesen Platz auf der äußerenAgida, genau wie Divya, als Aussicht auf die Freiheit. Aus völlig anderen Gründen, aber es fühlte sich gut an, in dieser Vorstellung vereint zu sein.
»Hast du Träume?«, fragte Divya plötzlich. »Wie deine Zukunft aussehen soll, meine ich.«
Jolissa lächelte. »Natürlich. Ich werde heiraten und eine Tana sein. Kinder haben. Ein schönes Haus.«
Divya runzelte die Stirn. »Ist das ein Traum? Etwas, das du wirklich willst? Oder ist es die Zukunft, die für dich vorgesehen ist?«
»Beides, denke ich«, erwiderte Jolissa verblüfft. Dann wurde ihr Gesicht weich und ihr Blick verlor sich irgendwo in der Ferne. »Vor ein paar Jahren durfte ich bei der Hochzeit meines Cousins dabei sein. Seine Braut trug eine Vesséla aus Hunderten von Njurschichten und eine wunderschöne Maske aus blauen Federn. Nach der Zeremonie durfte sie sie natürlich vor allen Gästen abnehmen, als Zeichen dafür, dass sie nun verheiratet war. Und in diesem Moment, als sie zum ersten Mal ihr Gesicht zeigen konnte, hatte sie das glücklichste Lächeln, das ich je gesehen habe. Alle haben sie bewundert und sich vor ihr verneigt, als sie vorbeiging.«
Nach einer Weile sah Jolissa Divya an und biss sich auf die Lippen.
»Entschuldige. Wie … ist es für dich? Wovon träumst du?«
Divya betrachtete eine Fahne, die auf einem der Nachbardächer im Wind
Weitere Kostenlose Bücher