Messertänzerin
erstarb. Nur gelegentlich erklangen Schritte auf dem feuchten Pflaster, und als sie zwei Vessélas für eine neue Schülerin grün färbte, war es beinahe ganz still. Das gleichmäßige Tropfen der nassen Kleider lullte sie ein, bis Selurias Bastsandalen über den Steinboden im Gang näher schlurften. Ihre Ablösung!
Mit leiser Stimme erklärte Divya der alten Frau, wie weit sie mit der Arbeit gekommen war. Seluria nickte und sah ihr aufmerksam ins Gesicht. »Du kannst alles mir überlassen. Und dorthin gehen, wo du so gern deine Nächte verbringst.«
War das ein Zwinkern?
»Du meinst sicher unsere Schlafkammer?«
Seluria wandte sich ab und ließ den Stoff der grünen Vessélas durch ihre Finger gleiten.
»Natürlich. Aber denk daran, dass Maita überall Augen hat.«
Je weiter sie über den Holzsteg nach oben kletterte, desto mehr hatte sie das Gefühl, sich von ihren Fesseln zu lösen. Und als sie die äußere Agida erreichte, spürte sie bereits den Wind im Gesicht. Vor Kurzem hatte sie bemerkt, dass die obere Holzabdeckung an einer Stelle lose war. Sie hob sie an und kletterte auf die Agida, griff nach der Dachkante und zog sich hinauf. Dann erstreckte sich die unglaubliche Ebene des Flachdaches vor ihr. Hier war der Wind nicht nur ein Hauch, sondern wild und frei! Die Lichter der schlafenden Stadt lagen unter ihr, und die Weite des Sternenhimmels war überwältigend. So viel Platz für einen Menschen! Jedes Mal, wenn Divya diesen Ort betrat, fühlte sie sich, als könnte sie mit ihren Tanzschritten überdas Dach fliegen. Und sie fing gleich damit an. Mit einer Freude, die ihr Herz wild schlagen ließ, bewegte sie sich zu einer Musik, die immer in ihr ertönte, wenn sie hier war. Es war eine schnellere und fröhlichere Melodie als die der Mädchen im Unterricht, so als würden die Finger in doppeltem Tempo über die Saiten der Elleijas gleiten, im Rhythmus von Divyas schnellem Herzschlag. Ihre Beine wirbelten über die glatte, weite Fläche, und ihre Vesséla bauschte sich im Wind.
Schließlich blieb sie erschöpft, aber befreit stehen und beschloss, zu einem ruhigeren Tempo zurückzukehren, um den Tanz des Frühlings zu probieren. Die Schritte waren einfach und wiederholten sich immer wieder, aber die Handhaltung war äußerst kompliziert, denn die Mädchen mussten einen Zweig mit Blüten zwischen ihren Fingern drehen und tanzen lassen. In Ermangelung eines Zweigs benutzte Divya einen hölzernen Kochlöffel, und als sie endlich verstanden hatte, wie man ihn wirbeln lassen konnte, schmerzten bereits ihre Hände. Aber Divya liebte diesen Tanz, den Rudja perfekt beherrschte, und sie wollte ihn ebenso gut können wie sie. Wenn ihre Lieblingslehrerin den Zweig um ihre Finger tanzen ließ, wirkte sie wie der Geist des Frühlings selbst, der sich keinen Regeln unterwerfen musste.
Als Divya den Kopf in den Nacken legte und die Finger in den Himmel streckte, hörte sie ein Geräusch ganz in der Nähe. Das musste von der Agida kommen. Oder hatte sie sich getäuscht? Blitzschnell huschte sie zum einzigen Sichtschutz auf dem Dach: zum Schornstein, der direkt zur Küche hinunterführte. Hinter dem schmalen gemauerten Kamin konnte sie sich gerade eben verstecken.
Angespannt starrte sie links zu der Stelle, an der sie selbst vorhin aufs Dach gestiegen war. Aber niemand war zu sehen. Plötzlich weckte eine Bewegung ganz rechts ihre Aufmerksamkeit. Auf der gegenüberliegenden Seite des Daches, auf der anderen Seite des Innenhofes, stand ein Mann. Er war ganz in Schwarz gekleidet und sein Gesicht war maskiert. Aufmerksam blickte er sich um, aber glücklicherweise bemerkte er Divya in ihrem Versteck nicht. Jetzt nahm er ein Seil mit einem Haken von der Schulter und befestigte es an der Dachkante. Langsam und lautlos glitt er daran hinab in den Garten.
Divya war wie erstarrt. Was hatte der Mann vor? Kam er, um eines der Mädchen zu entführen? Etwas zu stehlen? Aber was sollte es hier schon Wertvolles geben? Divya spähte vorsichtig über die Kante in den Garten. Gestern hatte es wieder ein Abschiedsfest gegeben: Sadas Tanz der Kerzen. Und … natürlich! Das kleine Schränkchen, das Geschenk des Ehemannes, stand noch immer dort. Es enthielt die beiden Kerzen, das Pergament mit Sadas Stammbaum und das Hochzeitsgeschenk des Mannes: eine kostbare Glaskette. Wenn die Braut durch ihren Tanz in die Ehe eingewilligt hatte, dann durften die Insignien dieser Vereinbarung nicht mehr unter ihrem alten Dach aufbewahrt werden.
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