Messertänzerin
werden?«
»Nun, wenn ich nicht gerade für dich arbeite, dürfen wir eigentlich nicht miteinander reden«, merkte Divya an. »Und du solltest nicht auf diesem Steg sein, wenn du keinen Ärger mit Maita haben möchtest.«
»Jaja, ich sollte auf meinem Zimmer sein, die zehn obersten Regeln einer Tana auswendig lernen und früh zu Bett gehen … Pah!« Das Mädchen verzog die Mundwinkel. »Vielbesser finde ich es aber, heimlich beim Fest dabei zu sein und zu wissen, dass sie mich nicht sehen können. Heute Abend wollte ich einfach mal meine neue Freiheit genießen.«
Freiheit? Divya verstand den Sinn des Wortes nicht angesichts der Enge der Agida. Aber sie beneidete die Fremde um das Funkeln in ihren Augen, als sie in den Garten blickte. Um ihre Hoffnung.
Die Mädchen hatten inzwischen einen Kreis um Donnea gebildet, die eine Kerze in einem goldenen Halter in der Hand trug. Maita klatschte und es wurde schlagartig still. Beinahe ehrfürchtig öffnete sie ein kleines tragbares Schränkchen: das traditionelle Geschenk des künftigen Ehemannes. Dabei umflatterten zwei Lichter die Schulleiterin, die natürlich niemand sehen konnte. Wodurch wurden sie wohl angelockt? Vielleicht von Maitas süßlichem Duftwasser, vermutete Divya.
Die Schulleiterin nahm eine weitere Kerze heraus und zündete sie an. Alle hielten den Atem an, als Maita mit der Kerze in ihren ausgestreckten Händen auf Donnea zuging. Und als die Flammen ganz dicht beieinander waren, vereinten sie sich – das Zeichen für die passende Verbindung. Donnea strahlte, und alle Schülerinnen klatschten, als wäre es eine große Überraschung. Divya hatten in den letzten Jahren gelernt, dass es das nicht war. Sie raffte ihr Kleiderbündel zusammen, verneigte sich und wollte weitergehen.
»Ich heiße Jolissa«, sagte das Mädchen lächelnd. »Und weißt du was? Ich beneide dich darum, jeden Tag ungesehen auf diesem Steg hin- und herhuschen zu können. Zu Hause wurde ich auf Tritt und Schritt von einer persönlichen Dienerin verfolgt, die mir gesagt hat, was ich anziehensoll, wie ich meinen Rücken durchstrecken muss und mit welchem Finger ich in der Nase bohren darf.«
Divya konnte das Kichern nicht unterdrücken, aber sie versuchte eine Hand vor den Mund zu halten, sodass ihr eine grüne Vesséla durch die Finger glitt. Jolissa bückte sich ganz selbstverständlich danach und legte das Kleidungsstück oben auf das Bündel. Divya senkte erschrocken den Blick und verneigte sich noch einmal, bevor sie hastig in Richtung Wäscherei lief.
In den nächsten Tagen verfolgte Divya den Unterricht der Mädchen noch intensiver als sonst. Wenn ihr Weg, um jemand zu sein, wirklich über das Lernen führte, dann war das ein guter Weg. Einer, dem sie unbewusst schon längst gefolgt war. Jede Minute, die sie entbehren konnte, verbrachte sie von nun an auf der Agida und starrte durch die Ornamente im dunklen Holz in die Unterrichtsräume hinein. Am besten gefiel ihr der Tanzunterricht bei der zierlichen und hübschen Rudja. So gern wäre Divya gewesen wie sie! Wenn Rudja über den Boden schwebte, hörte man keinen Laut, als wäre sie ein wunderbarer Nebel, der nur Form annahm, um die schönsten Figuren auf dem polierten Holzboden zu tanzen. Umso enttäuschender fand Divya es, wenn sie stehen blieb, denn dann erlosch das innere Strahlen der kleinen Frau.
Divya freute sich immer, wenn sie Jolissa in der Gruppe der Mädchen entdeckte. Sie war bei den Anfängern, und obwohl sie bereits jetzt die Haltung einer befehlsgewohnten Tana hatte, wirkte sie niemals arrogant. Ihre Mutter musste ihr eine gute Lehrerin gewesen sein. Heute stand sie mit den Neuen zusammen im großen Saal um Maitaherum. Schade, ihr Tanzunterricht war offenbar gerade beendet! Divya seufzte. Maitas Stunden waren eindeutig die langweiligsten, da sie immer und endlos die Regeln wiederholte, die Divya manchmal wie ein Labyrinth aus hohen Wänden vorkamen. Nun, heute ging es immerhin um die Schmuckstücke, die die Mädchen zu Beginn von der Schule bekamen. Es waren Ketten mit einem runden, leuchtenden Anhänger, den sie stets unter der Kleidung tragen sollten, am Hals oder in einer Tasche. Maita nannte ihn Sorgenstein.
»Nur abends, wenn ihr beim Umkleiden allein seid und über euren Tag nachdenkt, solltet ihr ihn in die Hand nehmen. Die Bürden einer Tana sind oft schwer, deshalb gewöhnt euch daran, eure Sorgen täglich diesem kleinen Anhänger zu erzählen. Vielleicht wird er euch danach etwas schwerer
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