Messertänzerin
zu lernen. Mit zwölf Jahren wird sie in einer Schule aufgenommen und unterrichtet. Sie lernt zu singen, mit dem Njur zu tanzen, die Elleija zu spielen und die Kunst der leichten Unterhaltung.Außerdem wird sie in die Geheimnisse der Frauen eingeweiht. Mit achtzehn wird sie verheiratet, an einen Mann, den ich zusammen mit der jeweiligen Familie für sie aussuche. Ihr werdet gut darauf vorbereitet, einem hohen Haushalt vorzustehen. Nehmt eure Aufgabe hier ernst und strengt euch jeden Tag aufs Neue an. Beweist mir, dass ihr würdig seid, Tana zu werden!«
Von diesem Augenblick an hatte Divya den Unterricht regelmäßig aus ihrem Versteck heraus angesehen, die Mädchen in ihren eleganten Bewegungen nachgeahmt und alles gelernt, was sie einmal brauchen würde. Sie war sicher, dass sie die Lehrerinnen später in Verzückung versetzen würde, weil sie bereits alles konnte. In ein paar Jahren würde sie diese Schule verlassen und endlich jemand sein. Jemand, der von anderen Menschen angesehen und angesprochen wurde. Sie wollte die Straßen und den ganzen Rest von Pandrea erkunden! Wie lange schon träumte sie davon, zu erfahren, was hinter der Biegung lag, die sie von ihrem Holzsteg aus sehen konnte … Hinter den Häusern. Hinter der Stadt.
Ihr erster Tag! Divya hätte springen können, während sie vor Maitas Schreibzimmer auf die Schulleiterin wartete. »Eine Tana ist immer geduldig«, hörte sie ihre innere Stimme flüstern, »und ihre Schritte sind sanft wie ihr Herzschlag.« Divya atmete tief ein, wie sie es gelernt hatte, und spürte, wie ihr Puls deutlich ruhiger wurde.
Die Schulleiterin kam spät, aber dafür sehr eiligen Schrittes heran. Aufrecht, wie immer, und mit fließenden Bewegungen, die nicht zu ihrem faltigen Gesicht und ihrer rundlichen Figur zu passen schienen. Schon von Weitem konnte Divya ihre Sandalen über den Stein klappernhören. Das war ungewöhnlich. Wenn sie es wollte, dann rauschte nicht einmal ihre gelbe Vesséla beim Gehen. Irgendetwas musste sie verärgert haben, und so bemerkte sie Divya auch erst, als sie schon fast vor der Tür stand.
»Wir suchen dich seit Stunden! Die beiden Köchinnen mussten allein das Frühstück vorbereiten und einige Schülerinnen brauchten Hilfe beim Ankleiden.«
Maitas Blick wanderte über Divyas ungewohnte Aufmachung.
»Anscheinend hattest du wichtigere Dinge zu tun.«
Divya neigte den Kopf und legte ihre linke Hand aufs Herz, wie es sich vor einer Höhergestellten gehörte.
»Ja, Tana.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. »Vielleicht habt Ihr es vergessen. Heute ist mein zwölfter Geburtstag.«
Maita zögerte, als wartete sie auf mehr, bevor sie einen Finger unter Divyas Kinn legte und es anhob.
»Tatsächlich?«, sagte sie leise.
»Ja. Mein erster Schultag.« Divya schenkte ihr ein schüchternes Lächeln. »Ich habe mir sogar einen Njur genäht, weil ich doch keine Familie habe, die ihn mir vererben könnte. Aber er fliegt genauso gut beim Tanzen wie ein richtiger, seht Ihr?«
Sie zog den hauchdünnen Stoff des langen Schleiers aus einer Tasche ihrer Vesséla, legte ihn in beide Hände und machte ein paar Tanzschritte, wobei sie die Augen schloss, den Kopf angemessen zur Seite neigte und den Njur an ihrem Kinn vorbeigleiten ließ. Sie war sicher, dass sie es richtig gemacht hatte – genau wie beim Tanz des Windes, den Rudja nur die Ältesten lehrte.
Aber als sie die Augen wieder öffnete, sah sie keine Bewunderungin Maitas Blick, sondern völliges Unverständnis. Dann zuckten Maitas Mundwinkel nach oben.
»Du willst zur Schule gehen, um eine Tana zu werden?«
Divya nickte. Endlich hatte sie sie verstanden!
»Du willst einen Mann der höheren Kasten heiraten, schöne Kleider tragen und in einem Palast leben?«
Divya zögerte. Das traf es nicht ganz, aber schließlich nickte sie wieder. Schneller, als sie es begreifen konnte, nahm die Schulleiterin ihr den Njur aus den Händen und zerriss ihn in zwei Teile. Selbst jetzt noch, als die Überreste zu Boden schwebten, kam es Divya vor, als wäre der feine Stoff nicht von dieser Welt. Sie hatte ihn von einem Mädchen bekommen, dem sie als Gegenleistung monatelang vor Sonnenaufgang die Haare kunstvoll aufstecken musste.
»Wie lautet das erste Gebot?«, zischte Maita.
Divya schüttelte den Kopf. »Aber …«
Die Schulleiterin holte aus und schlug ihr mit Wucht ins Gesicht, sodass Divya erschrocken rückwärtsstolperte. Es war nicht das erste Mal, dass sie geschlagen wurde, aber es war noch
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