Messertänzerin
ihrer Welt ins Diesseits mitgebracht.
Dieses Licht aber war das Erste, das Divya im Traum aufsuchte – oder wo auch immer sie sich gerade befand. Und es war das Erste, dessen Stimme sie hören konnte.
»Niemand kann wachsen, wenn er sich fallen lässt.«
Divya sah sich um. Die Halle, in der sie stand – oder von der sie träumte? –, war dunkel. Aber am dunkelsten war der Krater, der sich hinter dem Licht im Boden auftat. Und er schien größer zu werden. Als Divya sich vorbeugte, um hineinzusehen, raste das Licht auf sie zu und hielt sie damit zurück.
»Erinnerst du dich? Du wolltest jemand sein. Einen eigenen Weg gehen. Warum liegst du dann herum? Steh jetzt auf und sei jemand!«
Noch immer hörte Divya Wind, der die Worte des Wesens überdeckte. Aber er kam nicht aus einem Fenster oder einer Tür in die Halle. Er wehte tief in ihrem Innern.
»Du kannst dem Rauschen des Windes folgen und mit ihm fliehen. Oder du kannst dich gegen ihn auflehnen«, sagte die Stimme. »Aber wenn du dich von ihm treiben lässt wie Staub, wirst du auch nur Staub sein – und dich verlieren. Finde deinen eigenen Weg!«
Divya trat einen Schritt von dem Loch zurück. Hatte hinter ihr jemand eine Fackel angezündet? War es nicht heller geworden?
Das Licht flirrte und drängte sie ein paar weitere Schritte zurück. Jetzt war es eindeutig! Die Schwärze ging von dem Krater im Boden aus! Die Halle war gar nicht so dunkel!
»Lerne! Und kämpfe! Ohne zu lernen, kannst du deinen Weg nicht sehen. Und ohne zu kämpfen, wirst du ihn verlieren.«
Divya war verwirrt. Sollte das ein Auftrag sein? Ein Versprechen? Eine Prophezeiung?
Das Licht schien jetzt direkt hinter ihren Augenlidern zu flackern. Und das erinnerte Divya daran, dass ihr wirklicher Körper in einem Bett lag und sie brauchte. Mühsam versuchte sie die Augen zu öffnen, um festzustellen, ob sich das Wesen auch im wirklichen Leben genau vor ihr befand. Aber Divya fühlte sich nur schmerzhaft geblendet von der Helligkeit und sie fror mit einem Mal bis in die Knochen. Als sie versuchte aufzustehen, gehorchten ihre Beine nicht.
»Steh auf! Lerne! Und kämpfe!«, flüsterte es aus weiter Entfernung.
»Das glaub ich nicht!«, sagte eine andere Stimme, die viel näher war als die vorhin. »Divya? Kannst du mich hören?«
Nur langsam wurde das Tageslicht erträglicher. Sie konnte die Umrisse einer Frau erkennen.
»Seluria?«, wollte sie flüstern, aber es kam kein Ton heraus. Jemand benetzte ihren Mund mit Wasser, und als sie die ersten Tropfen schmecken konnte, spürte sie, dass ihre Lippen wehtaten und dass sie vor Durst fast umkam.
Es dauerte viele Stunden, bis sie richtig stehen konnte, und auch dann war sie noch sehr wackelig auf den Beinen. Seluria half ihr, stützte sie, fütterte sie und gab ihr mehr Wasser, als einer Dienerin zustand. Divya hätte gern weniger getrunken, weil sie vermutete, dass die alte Frau auf ihre eigene Ration verzichtete, aber ihr Durst schien kein Ende zu nehmen.
»Was ist passiert?«, fragte Divya schließlich.
»Du hast tagelang im Bett gelegen und wurdest immer weißer. Wir konnten dich nicht einmal dazu bringen, etwas zu trinken. Maita kam und brüllte dich an. Sie sagte, eine Dienerin, die nicht arbeitet, habe keinen Wert mehr für sie. Ich glaube, wenn sie gekonnt hätte, hätte sie dich verkauft.« Seluria legte ihre Hand auf die Divyas. »Sie hat uns verboten, dir Essen und Trinken zu bringen, weil sie der Meinung war, dass du irgendwann schon wieder aufstehen würdest. Ich habe es trotzdem versucht, aber du hast nichts angenommen. Gestern Abend hat Maita gesagt …« Sie wandte den Kopf ab. »Nun, sie glaubte nicht mehr daran, dass du überleben würdest. Wenn die Sonne aufgeht, sollten wir dich für das Totenviertel bereit machen. Der Träger wird bald hier sein.«
Sie zog ein Stück Stoff unter dem Bett hervor. Divya erschrak. Schwarz, die Farbe der Toten! Hatte sie das wirklich gewollt?
»Ich werde lernen«, murmelte sie leise vor sich hin. Dann setzte sie beide Füße auf den Boden und stand langsamauf. Sie brauchte fünf Versuche, bis sie ohne Selurias Hilfe stehen konnte. Bis Maita mit dem Träger kam, hatte sie sich angezogen und ihr Haar gerichtet. Sie sah der Schulleiterin fest in die Augen, während ihre Hand hinter dem Rücken eine Stuhllehne umkrampfte.
»Ich war gerade auf dem Weg in die Küche, Tana!«, sagte sie leise. »Es tut mir leid, dass ich etwas zu spät bin, aber ich werde die Zeit sicher aufholen.«
Im
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