Messertänzerin
nie absolut grundlos geschehen.
»Was habe ich getan?«, keuchte Divya mit weit aufgerissenen Augen.
»Das frage ich mich auch! Und nun sag mir: Wie lautet das erste Gebot?«
Divya senkte den Kopf. »Diene deiner Kaste!«, flüsterte sie.
Maita nickte befriedigt. »Wir leben in einer wohlgeordneten Welt. Ein Sohn lernt den Beruf des Vaters, eine Tochter lernt von der Mutter, den Haushalt zu führen. Oder sie hat das Glück, einer höheren Kaste anzugehörenund auf eine solche Schule gehen zu dürfen. Du hast weder Vater noch Mutter. Welcher Kaste gehörst du an?«
Divya schwieg. Was sollte die Frage?
Maita zupfte wütend an der grauen Vesséla. »Du kennst die Farben doch«, stieß sie hervor. »Staub – die Farbe, die man auf der Straße unter den Füßen hat. Du bist eine Dienerin! Wie kommst du darauf, dass sich daran je etwas ändern könnte?«
Divya war völlig verwirrt.
»Aber Sada hat gesagt, dass jedes Mädchen mit zwölf Jahren an eine Schule gehen kann, um Tana zu werden.«
Die Augen der Schulleiterin blitzten auf. »Sada? So?« Sie wandte sich schnell um, und Divya meinte hinter dem Treppenaufgang zwei Schatten hastig verschwinden zu sehen.
»Du solltest dich mit den Schülerinnen überhaupt nicht unterhalten«, fuhr Maita streng fort, »und ich werde auch Sada noch mal darauf hinweisen. Natürlich nehmen wir hier nur Mädchen aus den höheren Kasten auf, andere ganz bestimmt nicht!«
Divya senkte beschämt den Kopf, als sie spürte, dass Tränen über ihr Gesicht liefen. Sie konnte sich kaum an das letzte Mal erinnern, als sie geweint hatte.
«Ich dachte, mit ausreichend Aufmerksamkeit, Disziplin und Demut …«
Maita lachte auf. »Ah, du meinst, wir alle entscheiden uns freiwillig für das Leben, das wir führen?«
Divya hob das Kinn, um ein Nicken anzudeuten. Dabei begegnete sie Maitas Blick und er jagte ihr Angst ein. So kalt hatte sie die Schulleiterin noch nie erlebt.
»Wofür hältst du dich? In Pandrea hat jeder seinen Platz. Und wenn du deinen suchst, dann geh in die Küche!« Sieschnaubte. »Du solltest dankbar sein für dieses Leben. Ein anderes gibt es nicht!«
Als die Tür zum Schreibzimmer ins Schloss fiel, sank Divya auf den Boden und fuhr mit der Hand durch den Staub. Die Farbe ihrer Kaste. Die Farbe ihrer Zukunft.
Später konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wie sie in ihre Kammer gelangt war, in der sie mit fünf anderen Mädchen und Frauen schlief. Sie wusste nur, dass etwas in ihrem Innersten gestorben war. Die Versuche der Dienerinnen, sie zum Aufstehen zu bewegen, waren vergebens. Es war, als befände sich die ganze Welt hinter einer dichten Schicht aus Stoff und als sprächen die Menschen um sie herum eine andere Sprache. Den Sinn der Worte erahnte Divya an ihrem Klang, aber mehr drang nicht mehr zu ihr durch. Irgendwann tauchte Maitas Gesicht vor ihrem auf, ganz nah, und sie sprach sehr laut. Divya schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass starker Wind an ihren Ohren toste, und je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto weniger spürte sie ihren nutzlosen Körper. Der Wind in ihrem Innern verdrängte alles. Schmerz, Hunger, Durst und nochmals Schmerz. Dann fühlte er sich an wie Schlaf, ganz weich, nur tiefer.
Als Divya glaubte, noch weiterzufallen, sah sie ein Licht . Nicht ihr erstes, nein, an die Existenz dieser Wesen war sie seit ihrer Kindheit gewöhnt. Auch wenn sie schon vor Jahren erfahren musste, dass andere sie nicht sehen konnten. Niemand sonst schien sie zu bemerken, obwohl die älteren Dienerinnen ihnen stets etwas Zuckerwasser hinstellten. Wenn Divya aber um eine Erklärung für die Schalen bat, bestritten sie, sie hingestellt zu haben. Bis die Köchin ihreinmal zuraunte: »Geisterglaube wird vom Fürsten nicht gern gesehen. Sprich nicht darüber.«
Erstaunlicherweise gelang der Köchin meist der Kuchen, wenn eine solche Schale in der Nähe war. Auch wenn die alte Seluria neue Farbe zum Färben der Kleidung anrührte, gab es immer ein Gefäß, das keinen erkennbaren Zweck erfüllte. Divya tat es ihnen nach, aber sie musste sehr darauf achten, dass niemand ihre Blicke bemerkte, wenn sie die Wesen beobachtete. Sie empfand sie als ebenso selbstverständlich wie die Fliegen, die Spinnen und die Mäuse im Haus, nur dass sie kein Ungeziefer waren, sondern wunderschön! Winzige Wesen, die Schmetterlingen mit durchsichtigen Flügeln glichen. Sie flatterten in einer kleinen Kugel aus hellem Nebel, als hätten sie eine Luftblase aus
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