Messertänzerin
sie dein Freund. Wenn du sie fürchtest, wird sie dein Feind.«
Divya war es, als könnte sie Tajans Worte ganz dicht neben ihrem Ohr hören, so gut hatte sie seinen mahnenden Tonfall in Erinnerung. Aber auch wenn sie dem Lehrer in ihrem Kopf gern eine Beleidigung entgegengeschleudert hätte, reagierten ihre Muskeln wundersamerweise auf den allzu vertrauten Rat. Sie lösten sich, die Finger fanden neuen Halt und die Füße folgten ihnen nach.
Das Turmfenster war offen, sodass nach dem warmen Tag kühle Nachtluft in den runden Raum dringen konnte. Vorsichtig spähte Divya hinein. Und glaubte ihren Augen nicht zu trauen!
Sie übersah die teuren Möbel, die kostbaren Teppiche, die Werkzeugbank und die Papiere voller merkwürdiger Symbole. Sie starrte nur wie gebannt auf den riesigen gläsernen Käfig in der Mitte des Raumes. Er war mannshoch,etwa halb so breit, und um ihn herum hingen Hunderte von silbernen Amuletten an verschieden langen Fäden von der Decke. In jedes davon war eines der Symbole graviert, die jemand wohl vorher auf den Papieren geübt hatte. Und in dem Käfig schwirrten so viele Lichter umher, wie Divya sie noch nie an einem Ort und so eng beisammen gesehen hatte.
Erst als sie begriff, dass sie endlich gefunden hatte, was sie suchte, bemerkte sie die Gestalt in einem weißen Umhang, die neben dem Käfig kniete und soeben durch eine seitliche Luke ganz unten eine Schale hineinschob. Zuckerwasser, vermutete Divya. Aber für welche Kaste stand Weiß? Diese Farbe hatte sie noch nie an irgendeiner Person gesehen!
Noch während die Gestalt sich mühsam abstützen musste, um sich zu erheben, kletterte Divya durch das schmale Fenster und zog eines der Messer aus dem Rückenteil ihrer Vesséla heraus. So fühlte sie sich gewappnet, als die Gestalt sich zu ihr umdrehte, aber sie wollte ihr sagen, dass sie ihr nichts tun wolle.
Ihre eigene Reaktion hatte sie jedoch nicht vorhersehen können. Vor ihr stand mit Sicherheit keine Geliebte des Fürsten, sondern ein gebeugter und entstellter Mann. Die linke Hälfte seines Gesichtes sah aus, als hätte die Haut einmal Blasen geworfen. Das linke Auge war blassblau und vermutlich blind, und dieselbe Seite des Mundes hing leicht herunter. Auf der rechten Seite des Kopfes wuchs graubraunes Haar, auf der linken Seite hingen jedoch nur vereinzelte weiße Strähnen von einer blassen Glatze.
Zutiefst erschrocken wich Divya ein paar Schritte zurück – und zögerte vermutlich einen Moment zu lange.Der Greis näherte sich dem Käfig und berührte mit den Fingern in einer schnellen Folge ein paar der Amulette, als wollte er eine Melodie darauf spielen. Seine Stimme, die erstaunlich hell für einen älteren Mann war, drang an Divyas Ohr.
»Du wirfst das Messer zu Boden«, sang er leise und eindringlich. »Du wirst mich nicht angreifen, sondern tun, was ich sage.«
Während die von ihm berührten Amulette in Schwingung gerieten und sich drehten, schwirrten die Lichter im Käfig aufgeregt umher. Divya spürte, wie ihre Hand das Messer auf den Boden fallen ließ. Als handelte sie völlig losgelöst vom restlichen Körper und von Divyas Willen.
Sie hatte nie daran glauben können, dass Lichter ihr etwas tun würden. Wie konnte das sein? Hatte nicht selbst Maita gesagt, dass sie von ihnen begünstigt war? Wie ein Beobachter von außen stellte sie erstaunt fest, dass sie ihre Bewegungen zwar nicht mehr steuern konnte, dass sie aber alles denken konnte, was sie wollte. Vielleicht konnte sie ihn ja ablenken?
»Ist Weiß die Farbe der Magier? Ich habe noch nie einen gesehen.«
»Hat Warkan dich geschickt?«, fragte er misstrauisch. »Wer bist du und wo bist du so plötzlich hergekommen?« Sein Blick wanderte zum Fenster. »Die Tür hätte ich gehört, da ich seit Jahren kein anderes Knarren mehr kenne als dieses.«
»Ich bin von Natur aus sehr leise, tut mir leid, wenn ich Euch erschreckt habe. Hat Warkan Euch nichts gesagt?«, versuchte Divya ihr Glück. »Er war der Meinung, das Zimmer sollte mal wieder sauber gemacht werden.«
Ein falsches Lächeln breitete sich auf den entstellten Zügen des Magiers aus.
»Und womit wolltest du sauber machen? Mit deinem Messer?«
Sie verneigte sich mit der Hand auf der Brust. Gut! Harmlose Bewegungen waren ihr also möglich!
»Verzeiht. Ich hatte mich nur erschrocken. Die Putzsachen stehen noch draußen, ich wollte zuerst fragen …«
Er lachte bitter auf. »Besuch ist mir immer willkommen! Außer dem Fürsten hatte ich neunzehn Jahre
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