Messertänzerin
tatsächlich von einem Balkon herunterhing. Daran geknotet fand sie den Schlüssel.
»Hey, ihr da!«, rief auf einmal der neue Wachmann. »Verschwindet oder ich lasse euch verhaften!«
Divya zuckte zusammen, obwohl nicht sie gemeint waren. Das Paar unter dem Baum löste sich erschrocken voneinander, und der Mann hob grüßend die Hand, während sie weiter ihres Weges gingen. Ihre Schritte verhallten bald und die nächtliche Stadt lag wieder verlassen da.
Roc deutete stumm auf die Ostseite des Gebäudes und ging voraus. Divya folgte ihm in geduckter Haltung. Sie war äußerst dankbar, dass er sich bereit erklärt hatte mitzukommen, obwohl er kein geübter Fassadenkletterer war. Seine Ortskenntnis würde heute Nacht aber Gold wert sein, und den Tag über hatte sie ihn noch ein bisschen im Klettern geschult. Er hatte sich gar nicht mal schlecht angestellt. Nur das Schleichen lag ihm nicht, doch Divya hoffte einfachdas Beste. Zwischenfälle konnten sie sich heute nicht leisten.
Inzwischen war Roc unter einem dunklen Fenster stehen geblieben. Divya nickte, zog zwei Paar Metallaufsätze für die Stiefel und zwei Haken für die Hände hervor, reichte Roc einen Satz und kletterte mit ihrem an der Fassade empor. Oben angelangt, zog sie einen dünnen Metalldraht aus ihrem Haar, schob ihn durch den Fensterspalt und hob damit vorsichtig den Verschluss nach oben. Als das Fenster sich öffnete, kletterte sie auf den Sims.
Dahinter lag ein dunkler Raum. Als sie eine Weile gewartet hatte, um sich davon zu überzeugen, dass niemand darin war, wandte sie sich zu Roc um. Befriedigt stellte sie fest, dass er sie mit offenem Mund ansah, bevor er ihr anerkennend zunickte. Divya hakte ein Seil am Sims fest und warf es ihm zu. Für einen Anfänger geschickt, aber nicht allzu leise kletterte er zu ihr hoch.
Die Flure des Palastes waren von verschnörkelten Lampen erhellt, und deren Licht wurde von Hunderten von Spiegeln zurückgeworfen. Schwere Teppiche dämpften Divyas und Rocs Schritte, und wunderschöne Stofftapeten bedeckten die Wände, die außerdem mit fremdartig aussehenden Bildern geschmückt waren. Am meisten erstaunte Divya ein Gemälde von Tieren, die alle einen Höcker hatten und wie auf einer Kette aufgereiht dicht hintereinander durch eine sandbedeckte Landschaft zogen. Wie hatte Keiroan sie genannt? Dromedare? Ob es in ihrer Heimat so aussah? Und ob sie diese Tiere eines Tages mit eigenen Augen sehen würde?
Auf wundersame Weise gelang es Roc, jedem Wächter auszuweichen, der irgendwo durch diese Gänge patrouillierte.Ohne sein Wissen über die Gewohnheiten der Wachen, das begriff Divya jetzt, wäre sie niemals so weit gekommen. Manchmal bogen sie plötzlich seitlich in einen Treppenaufgang ab, hier und da gab es sogar verborgene Türen hinter der Stofftapete, die in ein Zimmer führten, das wiederum einen zweiten Ausgang auf einen anderen Flur hatte.
Als sie in einem dieser Räume Schritte hinter der Tür hörten und warten mussten, bis sie verklungen waren, flüsterte Divya: »Wie hast du es eigentlich geschafft, diese wichtige Stellung bei Warkan zu bekommen? Und sein Vertrauen?«
»Maita«, flüsterte Roc zurück. »Sie ist Auge und Ohr der Rebellen. Sie weiß alles über jeden. Deshalb habe ich in den letzten Jahren so engen Kontakt zu ihr gehalten. Sie wusste als Erste, dass der Fürst einen Sekretär suchte und was er von ihm erwartete. Außerdem verriet ich ihm einige Geheimnisse über seine engsten Vertrauten. Nichts, womit ich jemandem ernstlich schaden konnte. Aber es gefiel Warkan, dass ich für ihn spionierte.«
»Und in Wirklichkeit spionierte Maita ihre Mädchen aus, die Ehefrauen der wichtigsten Männer der Stadt«, ergänzte Divya. »Indem sie ihnen beibrachte, alles Wichtige ihren Sorgensteinen anzuvertrauen.«
Roc sah sie verblüfft an. »Woher weißt du das?«
»Ich habe es erst vor Kurzem herausgefunden«, gab Divya zurück. »Und ich wünschte, ich hätte den Mädchen von diesem Verrat noch erzählen können.«
Roc schüttelte den Kopf. »Maita hat nur weitergegeben, was für die Rebellen wichtig war. Keine Mädchen-Geheimnisse!«
»Ja, die kannte allein Maita. Schlimm genug!«, fand Divya.
Roc nickte zögernd. »Maita war schon immer die Besessenste, die Radikalste von allen Rebellen. Ich glaube, sie wäre zu gern an deiner Stelle gewesen, als du Warkan töten solltest. Stattdessen musste sie einen sehr langen Weg für ihre Rache gehen. Sie wurde die mächtigste Frau unter den Rebellen und
Weitere Kostenlose Bücher