Messias-Maschine: Roman (German Edition)
tröstliche Gefühl vermitteln zu lassen, dass alles einen Sinn hätte. Ich versuchte mir einzureden, dass die blinkenden Werbetafeln im Einkaufsviertel sich an mich persönlich richteten.
Trink Coca-Cola!
Vertrau auf Microsoft!
Schau Kanal 9!
Dann rief mich Charlie zum Essen herein, und ich setzte mich vor den Fernseher und schaltete die Nachrichten ein. In Zentralasien lagen neue Religionskriege in der Luft, die Massen umströmten diese grausige Statue, aus der echtes, von den Gläubigen gespendetes Blut lief, und riefen: »Tod! Tod! Tod!« Im Heiligen Amerika, wo Ruth aufgewachsen war, beschränkten neue Gesetze das Wahlrecht auf »gottesfürchtige männliche Oberhäupter christlicher Familien« und quittierten die Verbreitung der sündhaften Evolutions-Doktrin mit der Todesstrafe.
Ich wechselte das Programm. Unser Fernseher speicherte das Gesamtprogramm der letzten vierundzwanzig Stunden auf seiner Festplatte, weshalb man vorwärts, rückwärts und seitwärts blättern konnte. Ich schaltete hin und her. Aus dem Zusammenhang gerissene Ausschnitte aus Filmen, aus einer Dokumentation über diskontinuierliche Bewegung in der Quantenmechanik, aus einer Sitcom …
Dann kam ich bei Kanal 9 an und war mit einem Mal wie gebannt vom Anblick einer verblüffend hübschen Frau mit wunderbar sanften Augen.
Damals wusste ich es natürlich noch nicht, aber das war Lucy.
Tatsächlich handelte es sich um eine Sendung über Syntecs, Roboter, die von einer Schicht lebendiger Haut bedeckt waren. Sie waren praktisch nicht von Menschen zu unterscheiden, mit einer wichtigen Ausnahme: Im Gegensatz zu den ausländischen »Gastarbeitern«, die die Arbeiterklasse unseres Stadtstaats bildeten, konnten sie wie alle anderen Roboter programmiert werden. Sie hatten keine persönliche oder kulturelle Vorgeschichte. Sie litten nicht am Virus der Irrationalität und des Aberglaubens, der die gewöhnliche, ungebildete Bevölkerung der restlichen Welt infiziert zu haben schien.
Auf lange Sicht plante die Regierung, die Gastarbeiter ganz durch Roboter zu ersetzen und damit die gefährliche fünfte Kolonne der Reaktion aus unserer Mitte zu tilgen. Tausende von menschlichen Arbeitern – Griechen, Türken, Araber, Albaner, Russen, Inder, Filipinos – waren bereits fortgeschickt worden. Natürlich waren die meisten der Roboter, die ihre Aufgaben übernahmen, bestenfalls mit einer Plastikhaut ausgestattet, und viele wiesen keine echte Ähnlichkeit zu menschlichen Wesen auf. Doch die Syntecs waren eigens entwickelt worden, um die Dienstleistungen zu erbringen, für die es nach allgemeiner Einschätzung eine »menschliche« Note brauchte. Die Reichen schafften sich beispielsweise Syntec-Hausdiener an, und manche angesehene Firma erwarb Syntec-Rezeptionistinnen. Es handelte sich bei ihnen um ein Luxusprodukt.
Unvermeidlicherweise gab es auch Syntec-Sexarbeiterinnen. (Kommunikationssatelliten, Computer, die Druckerpresse: Menschen finden zu allem einen sexualisierten Zugang.) Lucy war eine Syntec-Prostituierte, wobei solche Syntecs offiziell als Hochentwickelte Sinnliche Vergnügungseinheiten bezeichnet wurden, kurz HESVEs. In der Fernsehsendung wurde erklärt, dass die HESVEs absolut von Vorteil für die gesamte Gesellschaft wären. Sie taten niemandem weh, sie konnten selbst kein Leid empfinden, und es gab keinerlei empirische Belege für die Behauptung, dass ihre Existenz Männer zu Gewaltverbrechen gegen Frauen ermutigen könnte. Offenbar traf sogar das Gegenteil zu. Sie hatten zu einem Rückgang von Vergewaltigungsfällen geführt und wirkten noch dazu der Verbreitung von Sexualkrankheiten entgegen. Es konnte nur an abergläubischen Vorstellungen von Recht und Unrecht liegen, wenn man nicht einsah, dass es sich bei ihnen um eine gute und vernünftige Einrichtung handelte.
Aber vergessen wir das. Der Anblick von Lucy hatte mich berührt. Er hatte einen wunden Punkt in meinem Innern berührt, und mit einem Mal fand ich mich verstörend erregt von der Vorstellung wieder, dass sie nicht bloß existierte, sondern auch schnell und leicht zu haben war. Wenn ich wollte, konnte ich sie schon morgen in meinen Armen halten … Und es würde keine Zurückweisungen geben, keine Widrigkeiten, niemanden, den man enttäuschen konnte …
Ich schaltete zurück, um sie noch einmal zu sehen, wie sie sich in ihrem Spitzennachthemd auf einem Sofa zusammengerollt hatte. Sie mochte zwar nicht wirklich lebendig sein, aber sie wirkte täuschend echt. Sie war so
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