Metro 2034
dachte an den zersprungenen Spiegel und an Saschas Worte. Sollte sie recht gehabt haben? Vielleicht kämpfte der Brigadier gegen sich selbst, vielleicht wollte er ja eigentlich unnötige Morde vermeiden, hatte sich aber nicht in der Gewalt . Hatte er den Spiegel zerschlagen, um den hässlichen, furchtbaren Menschen zu vernichten, in den er sich allmählich verwandelte?
Nein. Hunter hatte in dem Spiegel keinen Menschen, sondern ein Ungeheuer erblickt. Er hatte es zu erledigen versucht, doch dabei nur das Glas zersplittert, so dass aus der einen Spiegelung ein ganzes Dutzend geworden war. Aber was, wenn . Homer blickte den Sanitätern nach, wie sie die letzte von acht Leichen von der Draisine auf den Bahnsteig trugen . Was, wenn ihm aus dem Spiegel ein verzweifelter Mensch entgegengeblickt hatte? Der alte Hunter?
Was, wenn jener - der andere, der monströse - bereits herausgekommen war und die Führung übernommen hatte?
14 - WAS NOCH?
Was macht den Menschen eigentlich zum Menschen?
Mehr als eine Million Jahre zieht er durch diese Welt. Die magische Transformation, die dieses intelligente Herdentier zu etwas völlig Neuem werden ließ, hat sich jedoch erst vor etwa zehntausend Jahren vollzogen. Man denke nur: 99 Prozent seiner Geschichte hat er sich in Höhlen gedrängt und rohes Fleisch gekaut, außerstande sich zu wärmen, Werkzeug oder gar Waffen zu entwickeln, nicht einmal richtig sprechen konnte er. Auch in seinen Empfindungen unterschied er sich kaum von Affen oder Wölfen: Hunger, Angst, Bindung, Fürsorge, Befriedigung.
Wie hat er nur in wenigen Jahrhunderten gelernt zu bauen, zu denken und seine Gedanken aufzuschreiben? Die ihn umgebende Materie zu verändern, zu erfinden? Warum begann er auf einmal zu zeichnen, wie entdeckte er die Musik? Wie konnte er sich die Erde unterwerfen und sie nach seinen Bedürfnissen umgestalten? Was war es, das dieses Tier vor zehntausend Jahren hinzubekam?
Das Feuer? Es verlieh dem Menschen die Fähigkeit, Licht und Wärme zu zähmen und beides in unbewohnbare, kalte Gegenden zu tragen. Endlich konnte er seine Beute magenfreundlich zubereiten. Aber was änderte das? Gut, es gestattete ihm, seine Ländereien auszudehnen. Doch die Ratten haben auch ohne Feuer den ganzen Planeten besiedelt.
Nein, es war nicht das Feuer, jedenfalls nicht allein, da hatte der Musikant recht. Also musste es noch etwas geben . Aber was?
Die Sprache? Das ist zweifellos ein Unterschied zu den anderen Tieren. Wenn rohe Gedanken zu Wortbrillanten geschliffen werden und schließlich zu einer allgemeinen, überall im Umlauf befindlichen Währung werden. Dabei geht es nicht einmal so sehr darum, das auszudrücken, was sich in deinem Kopf abspielt, sondern vielmehr um die Fähigkeit, es zu ordnen, instabile, wie geschmolzenes Metall fließende Bilder in eine feste Form zu gießen. Die Klarheit und Nüchternheit des Geistes zu wahren, Anweisungen und Wissen exakt und eindeutig weiterzugeben. Daher auch die Fähigkeit, sich zu organisieren, zu unterwerfen, Armeen zusammenzustellen und Staaten zu bilden.
Doch Ameisen kommen ganz ohne Worte aus. Auf einer für den Menschen kaum wahrnehmbaren Ebene erschaffen sie riesige Konglomerate, leben in den komplexesten Hierarchien, teilen einander mit größter Exaktheit Informationen und Befehle mit, stellen mit eiserner Disziplin tausendköpfige, furchtlose Legionen, die sie in unhörbaren, aber gnadenlosen Kriegen aufeinanderhetzen.
Oder sind es die Buchstaben? Ohne die wir nicht in der Lage wären, unser Wissen zu speichern? Diese Ziegelsteine, aus denen sich der himmelstürmende babylonische Turm der menschlichen Zivilisation zusammensetzt? Ohne die alle Weisheit, die die Menschheit je erringt, wie ungebrannter Lehm zerfließen und zerspringen, unter dem eigenen Gewicht zusammensinken und zu Staub zerfallen würde? Ohne Buchstaben würde jede Generation den großen Turm von neuem zu bauen beginnen, würde sie sich ihr ganzes Leben lang an den Ruinen derselben Lehmhütte abrackern und schließlich krepieren, ohne auch nur ein einziges neues Stockwerk errichtet zu haben.
Erst die Buchstaben - die Schrift - ermöglichten es dem Menschen, das angehäufte Wissen aus seinem engen Schädel hinauszubefördern und unverfälscht für die Nachkommen aufzubewahren. So wurde er endlich von dem Schicksal erlöst, längst Entdecktes immer wieder von neuem entdecken zu müssen, und war in der Lage, auf einem festen, von seinen Vorfahren überlieferten Fundament etwas Eigenes
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