Metro 2034
Dauer seiner Existenz gerechnet - einprozentigen Abweichung also wieder zurückgeworfen in ewige Abstumpfung, in eine zeitlose Routine, in der ungezählte Generationen, die Augen zu Boden gerichtet, wiederkäuend, aufeinander folgen und zehn-, hundert-, fünfhunderttausend Jahre gleichermaßen unbemerkt vergehen?
Was noch?« »Ist das wahr?« »Was denn?« Leonid lächelte sie an.
»Das mit der Smaragdenen Stadt? Mit der Arche? Dass es so einen Ort in der Metro gibt?« Saschas Stimme klang nachdenklich; sie hatte den Blick auf ihre Füße gerichtet. »Es gibt solche Gerüchte.« »Ich würde das gerne mal sehen. Weißt du, als ich dort oben herumging, tat es mir um die Menschen leid. Wegen eines einzigen Fehlers wird es nie wieder so sein wie früher. Dabei war es so schön . glaube ich zumindest.« »Wegen eines einzigen Fehlers? Nein, wegen eines Kapitalverbrechens. Die ganze Welt zu zerstören, sechs Milliarden Menschen umzubringen -lässt sich das noch als Fehler bezeichnen?« »Trotzdem. Haben du und ich etwa nicht verdient, dass man uns verzeiht? Jeder verdient das. Jeder hat das Recht auf eine Chance, sich und alles zu ändern, es von neuem zu versuchen, noch einmal, und wenn es das letzte Mal ist.«
Sascha schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Ich würde so gerne sehen, wie dort alles in Wirklichkeit aussieht. Früher hat es mich nicht interessiert. Früher hatte ich einfach Angst, und mir kam dort alles so hässlich vor. Aber anscheinend bin ich einfach immer nur an der falschen Stelle nach oben gegangen. Wie dumm . Die Stadt dort oben ist wie mein früheres Leben. Sie hat keine Zukunft. Nur Erinnerungen, und selbst die sind fremd. Nur Gespenster. Ich habe etwas sehr Wichtiges begriffen, als ich dort oben war, weißt du .« Sie suchte nach Worten. »Die Hoffnung ist wie das Blut in deinen Adern. Solange es fließt, lebst du. Ich will weiter hoffen.«
»Und was willst du in der Smaragdenen Stadt?«, fragte Leonid.
»Ich will sehen, fühlen, wie das Leben früher war. Du hast es doch selbst gesagt. Dort sind die Menschen wahrscheinlich wirklich ganz anders. Sie haben das Gestern noch nicht vergessen, und sie werden ganz sicher ein Morgen haben. Also müssen sie ganz, ganz anders sein.«
Sie gingen ohne Hast die Dobryninskaja entlang. Noch immer ließen die Wachleute sie nicht aus den Augen. Homer hatte sie schweren Herzens verlassen, um beim Stationsvorsteher vorzusprechen; er war schon seit geraumer Zeit fort. Von Hunter fehlte nach wie vor jede Spur.
Dann, in dem marmornen Mittelgang der Dobryninskaja, hatte Sascha eine seltsame Erkenntnis: Die großen, innen ausgekleideten Bögen, durch die man zu den Gleisen gelangte, wechselten sich hier mit kleinen, dekorativen Relief-bögen ab. Immer ein großer, dann ein kleiner Bogen, wieder ein großer und wieder ein kleiner. Wie Mann und Frau, die sich an den Händen hielten, Mann und Frau, Mann und Frau . Und auf einmal spürte sie das Verlangen nach der breiten und starken Hand eines Mannes, in die sie ihre eigene legen konnte. Um sich darin nur ein wenig zu verbergen.
»Auch hier kann man ein neues Leben beginnen«, sagte Leonid und zwinkerte ihr zu. »Man muss nicht unbedingt woanders hingehen auf der Suche nach etwas . Manchmal genügt es, sich einfach umzusehen.«
»Und was sehe ich da?« »Mich.« Er senkte den Blick mit gespielter Bescheidenheit. »Ich habe dich schon gesehen. Und gehört.« Nun endlich lächelte Sascha zurück. »Deine Musik gefällt mir sehr, wie allen. Brauchst du denn gar keine Patronen? Du hast so viele davon hergegeben, um uns durchzuschleusen .«
»Ich brauche nur so viele, dass es fürs Essen reicht. Ich habe immer genug. Für Geld zu spielen ist Blödsinn.« »Warum spielst du dann?« »Wegen der Musik.« Er lachte. »Wegen der Menschen. Nein, nicht ganz. Wegen dem, was die Musik mit den Menschen macht.« »Was macht sie denn mit ihnen?« »Alles, was du willst«, erwiderte Leonid, diesmal wieder ernst. »Ich habe eine, die Liebe entfacht, und eine, die zu Tränen rührt.« Sascha blickte ihn misstrauisch an. »Und die, die du letztes Mal gespielt hast? Die, die keinen Namen hat. Was ruft sie hervor?« »Die?« Er pfiff die Einleitung. »Gar nichts. Sie nimmt nur den Schmerz.« »He, Alter!«
Homer schloss sein Buch und rutschte auf der unbequemen Holzbank hin und her. Der Diensthabende thronte hinter einem kleinen Schreibpult, das fast vollständig von drei alten schwarzen Telefonen ohne Tasten oder Wähl-scheiben
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