Metro 2034
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überlebt hat, obwohl es dafür keinerlei Beweise gibt.« Homer winkte ungeduldig ab. »Die Smaragdene Stadt.«
»Ebenfalls bekannt ist, dass die Moskauer Universität auf weichem Grund gebaut wurde. Das riesige Gebäude war nur stabil, weil gewaltige Kältemaschinen im Keller den sumpfigen Boden in gefrorenem Zustand hielten. Ansonsten wäre es längst in den Fluss hinabgerutscht.«
»Ein abgedroschenes Argument«, warf der Alte ein. Er begriff, worauf Leonid hinauswollte. »Über zwanzig Jahre sind vergangen, aber das verlassene Gebäude steht noch immer an Ort und Stelle.« »Weil das alles ein Märchen ist, deshalb!«
»Gerüchten zufolge befindet sich unter der Universität nicht nur irgendein Keller, sondern ein großer strategischer Luftschutzbunker, zehn Stockwerke tief. Dort stehen die Kältemaschinen und - was noch wichtiger ist - auch ein eigener Atomreaktor, Wohnräume und Verbindungsgänge zu den nächstgelegenen Metrostationen und sogar zur Metro2.«
Leonid sah Sascha mit großen, furchterregenden Augen an, so dass diese lachen musste. »Alles kalter Kaffee«, kommentierte Homer abschätzig. »Angeblich soll sich dort eine ganze unterirdische Stadt befinden«, setzte der Musiker mit verträumter Stimme fort.
»Eine Stadt, deren Bewohner keineswegs gestorben sind, sondern es sich zur Aufgabe gemacht haben, in mühevoller Kleinarbeit das verlorengegangene Wissen wieder einzusammeln und dem Schönen zu dienen. Sie scheuen keine Mittel, um Expeditionen in noch erhaltene Galerien, Museen und Bibliotheken an der Oberfläche zu unternehmen.
Bei der Erziehung ihrer Kinder legen sie größten Wert darauf, dass diese ein klares Gefühl für Schönheit entwickeln.
Friede und Harmonie herrschen dort, ihre einzige Ideologie ist die Aufklärung, die einzige Religion die Kunst. Dort sind die Wände nicht nur mit zwei hässlichen Ölfarben gestrichen, sondern mit wunderbaren Fresken bemalt. Aus den Lautsprechern tönen nicht Befehle und Alarmsirenen, sondern Berlioz, Haydn und Tschaikowsky. Stellt euch nur vor: Jeder der Bewohner kann aus dem Kopf Dante zitieren. Nur deshalb sind die Menschen dort so geblieben wie früher.
Oder nein, nicht wie im 21. Jahrhundert, sondern eher wie in der Antike. Na ja, Sie haben ja die ‚Mythen und Legenden‘ gelesen.« Leonid lächelte den Alten an, als halte er ihn für leicht begriffsstutzig. »Frei, mutig, schön und weise. Gerecht und edel.« »Hab ich noch nie gehört!« Homer hoffte nur, dass der schlaue Teufel ihm damit nicht das Mädchen einfing. »In der Metro heißt dieser Ort ‚Smaragdene Stadt‘. Seine Bewohner jedoch bevorzugen angeblich eine andere Bezeichnung.« »Die da wäre?«, schnappte Homer. »Arche.« »Blödsinn!Völliger Blödsinn!« Der Alte schnaubte und wandte sich ab. »Natürlich«, sagte der Musiker. »Es ist ja nur eine Geschichte.« An der Dobryninskaja herrschte Chaos. Homer blickte sich nach allen Seiten um, verblüfft und ängstlich zugleich: War es eine Täuschung? Konnte sich so etwas an einer Ringstation abspielen? Es sah aus, als hätte jemand kurz zuvor der Hanse den Krieg erklärt.
Aus dem Tunnel neben ihnen ragte eine Transportdraisine hervor, darauf ein paar Leichen, willkürlich übereinandergeschichtet. Militärsanitäter mit Schürzen hievten sie herunter und legten sie auf einem Stück Zeltbahn ab. Einer fehlte der Kopf, andere hatten entstellte Gesichter, wieder anderen quollen die Gedärme hervor .
Homer hielt Sascha die Augen zu. Leonid atmete schwer und wandte sich ab. »Was ist passiert?«, fragte einer der Männer aus ihrem Begleitschutz einen Sanitäter. »Unsere Wachleute beim Großen Verteiler hat's erwischt.
Alle bis zum letzten tot. Keine Überlebenden. Und niemand weiß, wer's war.« Der Sanitäter wischte sich die Hände an seiner Schürze ab. »Hast du mal was zum Rauchen? Meine Hände zittern so.« Der Große Verteiler, auch Haupt-Zubringer genannt, war ein spinnenartiges Gleissystem, das hinter der Pawelezkaja-Radialstation abzweigte und gleich vier Linien miteinander verband: den Ring, die graue, die orangene und die grüne Linie. Homer hatte geahnt, dass Hunter diesen Weg wählen würde. Es war der kürzeste. Allerdings wurde er stets von starken Einheiten der Hanse bewacht. Wozu dieses Blutvergießen? Hatten sie als Erste das Feuer auf ihn eröffnet? Oder ihn in der Dunkelheit gar nicht kommen sehen? Wo war er jetzt? Oh Gott, da lag noch ein Kopf . Warum hatte er das getan? Homer
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