Metro 2034
zu errichten.
Doch war das alles? Könnten die Wölfe schreiben, wäre ihre Zivilisation so ähnlich wie die des Menschen? Hätten sie denn überhaupt eine Zivilisation?
Ein satter Wolf verfällt in eine wohlige Trägheit, er liebkost seine Artgenossen und spielt mit ihnen, bis ihn sein knurrender Magen weitertreibt. Einen satten Menschen überkommt dagegen ein völlig anders geartetes Gefühl: Er wird melancholisch. Es ist eine unfassbare, unerklärliche Regung, die ihn dazu bringt, stundenlang die Sterne zu betrachten, die Wände seiner Höhle mit Ocker zu bepinseln, den Bug seines Kampfbootes mit geschnitzten Figuren zu dekorieren, in jahrhundertelanger Schwerstarbeit steinerne Kolosse zu errichten, anstatt die Festungsmauern zu verstärken, und sein Leben lang an der Verfeinerung seiner poetischen Meisterschaft zu arbeiten, anstatt sich in der Kunst der Schwertführung zu üben.
Es ist diese Regung, die einen ehemaligen Hilfszugführer dazu bringt, die wenigen ihm verbliebenen Jahre der Lektüre und der Suche zu widmen, der Suche und dem Versuch, etwas niederzuschreiben . Etwas Besonderes . Um diese Sehnsucht zu befriedigen, lauscht das einfache, arme Volk den fahrenden Geigern, halten sich Könige eigene Troubadoure oder Hofmaler, betrachtet ein im Unterirdischen geborenes Mädchen lange ein bemaltes Teepäckchen. Es ist ein undeutliches, aber machtvolles Rufen, das sogar die Stimme des Hungers zu übertönen vermag - und das nur der Mensch vernimmt.
Ist es nicht gerade dieses Rufen, das über das Spektrum der tierischen Empfindungen hinausgeht und dem Menschen erst die Fähigkeit gibt zu träumen, die Kühnheit zu hoffen und den Mut zu verzeihen? Liebe und Mitleid, also jene Gefühle, die der Mensch so oft für seine besonderen Eigenschaften hält, hat nicht er entdeckt. Auch ein Hund ist fähig, zu lieben und mitfühlend zu sein: Ist sein Herrchen krank, so weicht er nicht von seiner Seite und winselt.
Sogar Sehnsucht legt er an den Tag und ist in der Lage, den Sinn seines Lebens in einem anderen Wesen zu sehen: So mancher Hund ist beim Tode seines Herrchens selbst bereit zu sterben, nur um bei ihm zu bleiben. Aber träumen kann der Hund nicht.
Dann ist es also die Sehnsucht nach dem Schönen und die Fähigkeit, es zu schätzen? Diese erstaunliche Fähigkeit, sich an einer Farbkomposition zu erfreuen, an Klangreihen, gebrochenen Linien und elegant gebauten Sätzen? Ihnen ein süßes und zugleich schmerzliches Klingen der Seele zu entlocken, das jedes Herz erfasst -selbst ein verfettetes, von Schwielen überzogenes, völlig vernarbtes - und es von seinen Geschwüren befreit?
Vielleicht. Doch nicht nur das. Um die Gewehrschüsse und verzweifelten Schreie gefesselter nackter Menschen zu übertönen, haben gewisse Menschen großartige Wagneropern mit voller Lautstärke abspielen lassen. Und das war kein Widerspruch: Das eine unterstrich nur das andere. Was also noch?
Selbst wenn der Mensch in dieser Hölle als biologische Art überlebt, wird er diesen zerbrechlichen, kaum wahrnehmbaren, aber zweifellos realen Bestandteil seiner Natur bewahren? Wird er diesen besonderen Funken erhalten können, der vor zehntausend Jahren das halb verhungerte Tier mit dem trüben Blick zu einem Wesen einer anderen Ordnung machte? Zu einem Wesen, das der seelische Hunger noch viel mehr quält als der körperliche. Einem schwankenden Wesen, ewig hin- und hergerissen zwischen geistiger Größe und Niedrigkeit, zwischen unerklärlicher, für ein Raubtier eigentlich ausgeschlossener Gnade - und unverzeihlicher Grausamkeit, wie sie nicht einmal in der seelenlosen Welt der Insekten ihresgleichen kennt. Einem Wesen, das herrliche Schlösser errichtet und unglaubliche Gemälde erschafft, das sich in der Fähigkeit, Schönes zu synthetisieren, mit dem Schöpfer selbst misst und auf der anderen Seite Gaskammern und Wasserstoffbomben erfindet, um das Erschaffene wieder zu annihilieren und seinesgleichen möglichst ökonomisch zu vernichten. Einem Wesen, das am Strand eifrig Sandburgen baut, um sie sodann aus einer Laune heraus zu zerstören. Einem Wesen, das keinerlei Grenzen kennt, das ängstlich ist und zugleich überschäumend, außerstande, seinen prekären Hunger zu stillen, und doch sein ganzes Leben nichts anderes versucht. Einem Menschen.
Wird dieser Funke in ihm, von ihm bleiben? Oder wird er in der Vergangenheit verschwinden als ein kurzer Ausschlag im Diagramm der Geschichte? Wird der Mensch nach dieser seltsamen - auf die
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