Metro 2034
Norden, auf der Kola-Halbinsel, gibt es eine Stadt, die heißt Poljarnyje Sori. Ein gottverlassenes Nest. Bis Moskau sind es eineinhalbtausend Kilometer, bis Petersburg mindestens tausend. Am nächsten gelegen ist Murmansk mit seinen Marinestützpunkten, aber selbst bis dorthin ist es ein ordentlicher Weg.«
»Mit einem Wort: ein Kaff«, kommentierte Leonid schief grinsend. »Jedenfalls liegt es weit entfernt von irgendwelchen gro
ßen Städten, geheimen Fabriken und Militärbasen. Den wichtigsten Zielen. Alle Städte, die unsere Raketenabwehr nicht schützen konnte, zerfielen in Schutt und Asche. Und die anderen, über denen es einen Abwehrschirm gab und wo die Abfangraketen funktionierten .« Homer blickte nach oben. »Nun, das wissen wir ja alle. Aber daneben gab es auch Orte, auf die niemand zielte. Weil sie keinerlei Gefahr darstellten. Wie zum Beispiel Poljarnyje Sori.«
»Die interessieren uns doch jetzt auch nicht mehr«, sagte der Musiker.
»Sollten sie aber«, entgegnete Homer barsch. »Denn unweit von Poljarnyje Sori befindet sich das Atomkraftwerk Kola. Eines der leistungsstärksten im ganzen Land. Es hat seinerzeit praktisch den ganzen Norden Russlands mit Strom versorgt. Millionen von Menschen. Hunderte von Fabriken. Ich komme selbst aus Archangelsk, also weiß ich, wovon ich spreche. Als Schüler habe ich sogar mal eine Exkursion dorthin gemacht. Es ist eine richtige Festung, ein Staat im Staate. Sie hatten eine eigene kleine Armee dort, eigene Landwirtschaftsflächen und Verarbeitungsbetriebe.
Völlig autark waren die. Warum sollte sich ihr Leben nach einem Atomkrieg geändert haben?« Er lächelte traurig. »Sie wollen damit sagen .«
»Petersburg existiert nicht mehr, Murmansk und Archangelsk ebenso. Millionen von Menschen sind vernichtet worden, Fabriken und Städte zu Staub und Asche verbrannt.
Poljarnyje Sori aber hat überlebt. Und auch das AKW ist unversehrt geblieben. Rings herum ist kilometerweit nichts als Schnee. Schnee und Eisfelder, Wölfe und Eisbären. Es gibt keinerlei Verbindung zum Zentrum. Und sie haben genug Brennstoff, um eine große Stadt einige Zeit am Leben zu erhalten. Das heißt, für sich und vielleicht noch für das nächste Umland haben die auf hundert Jahre hinaus ausgesorgt. Die überwintern leicht.«
»Eine Arche«, flüsterte Leonid. »Und als die Sintflut vor über war und das Wasser zurückging, kam vom Berg Ararat.« »Genau.« Der Alte nickte ihm zu. »Woher wissen Sie das alles?« Die Stimme des Musikers klang auf einmal weder ironisch noch gelangweilt.
»Ich habe mal als Funker gearbeitet«, erwiderte Homer ausweichend. »Und ich wollte unbedingt Überlebende in meiner Heimatregion ausfindig machen.« »Werden die dort wirklich aushalten, so hoch im Norden?«
»Da bin ich mir sicher. Allerdings hatte ich das letzte Mal vor zwei Jahren Kontakt. Aber denken Sie nur, was das bedeutet: Strom und Wärme für ein ganzes Jahrhundert. Mit medizinischen Geräten, mit Computern, mit elektronischen Bibliotheken auf CD-ROMs. Woher sollten Sie das auch wissen? In der gesamten Metro gibt es ja nur zwei PCs, und auch die sind nur noch Spielzeug. Dabei ist das hier die Hauptstadt.« Homer lächelte bitter. »Sollten sonst noch irgendwo Menschen überlebt haben -nicht vereinzelt, sondern in ganzen Siedlungen -, so herrscht dort doch längst wieder das 17. Jahrhundert, wenn nicht gar die Steinzeit.
Kienspäne, Viehzucht, Schamanentum. Jeder Dritte stirbt bei der Geburt. Abakus und Schrifttum auf Birkenrinden.
Es gibt nichts außer dem eigenen Gehöft und ein, zwei benachbarten Weilern. Eine menschenleere Ödnis. Wölfe, Bären, Mutanten. Schließlich beruht die gesamte moderne Zivilisation auf elektrischer Energie.« Er räusperte sich und sah sich um. »Wenn der Strom ausfällt, gehen die Stationen hier unten zugrunde, und das war's. Milliarden von Menschen haben in Jahrhunderten unsere Zivilisation aufgebaut, und plötzlich ist alles dahin. Homo sapiens darf wieder von vorne anfangen. Nur wer weiß, ob wir es diesmal schaffen? Und jetzt stellen Sie sich vor: In einer solchen Situation bekommt eine Handvoll Leute auf einmal eine Gnadenfrist von einem ganzen Jahrhundert!Sie haben recht: Es ist eine Arche Noah. Ein fast unbegrenzter Vorrat an Energie. Öl muss ja erst gefördert und verarbeitet werden, nach Gas muss man bohren und es Tausende Kilometer weit pumpen. Also zurück zur Dampfmaschine? Oder noch weiter?« Er nahm Saschas Hand. »Ich sage dir, den Menschen
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