Metro 2034
Bonzen der Hanse offiziell nichts zu tun haben wollten. Natürlich wimmelte es an diesen sogenannten Radialstationen von Spionen der Hanse, und de facto waren sie längst von den Geschäftsleuten der Ringlinie aufgekauft worden, doch rein formal blieben sie unabhängig. So war es auch mit der Serpuchowskaja.
In einem der Tunnel zwischen ihr und der Tulskaja war an jenem Tag vor langer Zeit ein Zug stecken geblieben. Istomin hatte die Linie zwischen den beiden Stationen auf der Karte mit einem katholischen Kreuz markiert, denn die Waggons, die dort mitten im Tunnel standen, wurden von Sektierern bewohnt, die aus dem leblosen Zug eine Art einsames Gehöft inmitten einer schwarzen Wüste gemacht hatten. Istomin hatte nichts gegen die Sektierer. Zwar trieben sich ihre Missionare an den Nachbarstationen herum, um gefallene Seelen aufzulesen, doch bis zur Sewastopolskaja kamen diese Hirtenhunde Gottes nie, und auch die vorbeikommenden Wanderer behinderten sie nicht -außer vielleicht durch ihre missionarischen Reden. Der saubere und leere Tunnel zwischen der Tulskaja und der Serpuchowskaja wurde von den Karawanen der Gegend gerne genutzt.
Wieder einmal wanderte Istomin mit seinem einen Auge die Linie entlang. Die Tulskaja? Die Siedlung dort zeigte erste Anzeichen von Verwilderung.Ihre Bewohner lebten von dem, was die vorbeimarschierenden Konvois der Sewastopolskaja und die schlauen Händler der Serpuchowskaja zurückließen.
Die einen reparierten allen möglichen mechanischen Schrott, andere wiederum suchten an der Grenze zur Hanse nach Gelegenheitsarbeiten; tagelang hockten sie da und warteten, bis irgendein Vorarbeiter mit dem Benehmen eines Sklavenhalters sie anwarb. Auch sie sind arm, dachte Istomin, aber wenigstens haben sie nicht diesen schmierigen Gaunerblick wie die Serpuchower, und an der Station herrscht Ordnung. Gefahr schweißt eben zusammen.
Die nächste Station war die Nagatinskaja. Auf Istomins Plan war sie mit einem kurzen Strich als unbewohnt markiert, was aber nur die halbe Wahrheit war: Zwar hielt sich dort niemand lange auf, doch trieb sich bisweilen verschiedenstes Gesindel herum und führte ein zwielichtiges, halb animalisches Dasein. In der absoluten Dunkelheit, die dort herrschte, verbargen sich ineinander verschlungene Pärchen vor fremden Blicken. Nur selten flammte zwischen den Säulen ein schwaches Feuer auf und beleuchtete die Schatten finsterer Spießgesellen, die dort ein geheimes Treffen abhielten.
Über Nacht blieben hier jedoch nur Ahnungslose oder äußerst verwegene Individuen, denn nicht alle Besucher dieser Station waren Menschen. In der flüsternden, gallertartigen Finsternis, die die Nagatinskaja erfüllte, waren, wenn man genau hinsah, bisweilen wahrhaft grauenvolle Silhouetten zu erkennen. Und manchmal zerriss ein gellender Schrei die Luft und jagte den anderen Obdachlosen zumindest vorübergehend -grauenvolle Angst ein, während irgendein Wesen einen armen Kerl in seine Höhle fortschleppte, um ihn dort ohne Hast zu verspeisen.
Weiter als bis zur Nagatinskaja wagten sich die Landstreicher nicht vor, so dass sich die Linie bis zu den Verteidigungsanlagen der Sewastopolskaja in eine Art Niemandsland verwandelt hatte. Dieser Begriff traf allerdings nur bedingt zu, denn auch diese beiden Stationen wurden von gewissen Wesen beherrscht -doch selbst die Sewastopoler Aufklärungstrupps taten alles, um eine Begegnung mit ihnen zu vermeiden.
Aber nun war etwas Neues in den Tunneln aufgetaucht.
Etwas völlig Unbekanntes. Etwas, das jeden verschlang, der versuchte auf dieser scheinbar seit langem erforschten Route voranzukommen. Woher sollte Istomin wissen, ob seine Station, selbst wenn man alle wehrfähigen Bewohner zu den Waffen rief, eine genügend große Streitmacht aufbringen würde, um es damit aufzunehmen? Er erhob sich schwer von seinem Stuhl, schlurfte zur Karte hinüber und markierte mit einem Kopierstift den Abschnitt zwischen der Serpuchowskaja und dem Nachimowski prospekt. Daneben setzte er ein dickes Fragezeichen. Eigentlich sollte es genau neben dem Wort »Prospekt« zu stehen kommen, doch irgendwie landete es bei der Sewastopolskaja.
Auf den ersten Blick konnte man glauben, die Sewastopolskaja sei unbewohnt. Keine Spur von irgendwelchen Armeezelten auf dem Bahnsteig, die den Menschen an den meisten Stationen als Wohnstätten dienten. Stattdessen gab es Befestigungen aus Sandsäcken, die, kaum beleuchtet von wenigen trüben Lampen, wie dunkle Ameisenhaufen aussahen.
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