Metro 2034
Mobilmachung bekanntgeben. Dann versuchen wir einen Durchbruch.« Istomin hob die Augenbrauen, doch entgegnete er nichts, sondern zog nur lange an der leise knisternden Selbstgedrehten, während
Denis Michailowitsch nach ein paar vollgekritzelten Blättern auf dem Tisch griff und nach einem nur ihm verständlichen System Kreise um verschiedene Namen zu ziehen begann.
Einen Durchbruch? Der Stationsvorsteher blickte über den grauen Nacken des Oberst hinweg durch den schwimmenden Tabakdunst auf die Metrokarte, die an der Wand hing. Gelb, speckig und übersät mit kleinen Zeichen war dieser Plan eine Art Chronik des vergangenen Jahrzehnts: Pfeile standen für Aufklärungsmärsche, Kreise für Belagerungen, Sterne für Wachposten und Ausrufezeichen für verbotene Zonen. Zehn Jahre waren darin dokumentiert, zehn Jahre, von denen kein Tag ohne Blutvergießen vergangen war.
Unterhalb der Sewastopolskaja, gleich hinter der Station Juschnaja hörten die Markierungen auf. Soweit sich Istomin erinnern konnte, war noch nie jemand von dort zurückgekehrt. Wie ein langer, verzweigter Wurzelstock kroch die Linie nach unten, jungfräulich rein wie die weißen Flecken auf den Karten der spanischen Eroberer, die zum ersten Mal an der Küste Westindiens anlegten. Doch eine Conquista der gesamten Linie war für die Sewastopoler eine Nummer zu groß -keine noch so große Anstrengung dieser von der Strahlenkrankheit geschwächten Menschen hätte dazu gereicht.
Und nun verhüllte der bleiche Nebel der Ungewissheit auch noch jenen Stumpf ihrer gottverlassenen Linie, der nach oben wies, zur Hanse, zu den Menschen. Wenn der Oberst seinen Leuten in Kürze befehlen würde, sich zum Kampf zu rüsten, würde sich niemand weigern. An der Sewastopolskaja war der Krieg um die Vernichtung des Menschen, der vor über zwei Jahrzehnten begonnen hatte, niemals auch nur für eine Minute abgebrochen, und wenn man jahrelang im Angesicht des Todes lebt, weicht die Angst einem gleichgültigen Fatalismus, Aberglauben, Talismänner und tierische Instinkte nehmen überhand. Aber wer wusste denn, was sie erwartete, dort zwischen dem Nachimowski prospekt und der Serpuchowskaja? Wer wusste, ob man dieses rätselhafte Hindernis überhaupt durchbrechen konnte und ob es dahinter noch etwas gab, was den Kampf lohnte? Istomin dachte an seine letzte Fahrt zur Serpuchowskaja: Marktstände, Obdachlose auf Bänken, Wandschirme, hinter denen jene schliefen und sich liebten, die noch etwas besaßen. Diese Station produzierte nichts, es gab weder Gewächshäuser noch Viehställe. Nein, die Serpuchower waren diebisch und schlau. Sie lebten von der Spekulation, verkauften längst abgeschriebene Waren, die sie bei verspäteten Karawanen für einen Spottpreis erstanden, und erwiesen den Bürgern der Ringlinie Dienste, für die diese zu Hause vor Gericht gekommen wären. Diese Station war ein parasitärer Pilz, eine Wucherung am mächtigen Stamm der Hanse. Letztere war ein Bündnis reicher Handelsstationen, passenderweise nach dem deutschem Vorbild benannt, ein Bollwerk der Zivilisation in der Metro, die sonst überall in einem Sumpf aus Barbarei und Armut versank. In der Hanse gab es eine echte Armee, elektrisches Licht sogar noch an den ärmlichsten Zwischenhalten sowie ein Stück Brot für jeden, der den ersehnten Bürgerschaftsstempel in seinem Pass hatte. Selbst auf dem Schwarzmarkt kosteten diese Pässe ein Vermögen, und wenn die Grenzposten jemanden als Besitzer eines gefälschten Dokuments überführten, so kostete ihn dies den Kopf.
Ihren Reichtum und ihre Stärke verdankte die Hanse ihrer außergewöhnlichen Lage: Die Ringlinie verband alle anderen Linien des sternförmigen Komplexes zu einem Bündel und eröffnete so die Möglichkeit, von einer beliebigen Linie auf alle anderen zu wechseln. Ob fahrende Händler, die Tee von der WDNCh mitbrachten, oder Draisinen, die Patronen aus den Waffenschmieden der Baumanskaja transportierten - alle luden sie ihre Fracht am liebsten bei der nächstgelegenen Zollstation der Hanse ab und kehrten dann wieder nach Hause zurück. Es war für sie allemal besser, ihre Waren etwas billiger abzugeben, als sich auf der Jagd nach höheren Profiten auf eine Wanderschaft durch die Metro zu begeben, die jederzeit fatal enden konnte.
Es kam mitunter vor, dass die Hanse benachbarte Stationen angliederte, doch häufiger blieben diese sich selbst überlassen - eine geduldete Grauzone, in der jene Geschäfte abgewickelt wurden, mit denen die
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