Metro 2034
Nagornaja hatten sie ohne Verluste passiert, ein einziger Soldat war kurz verschwunden, doch schon bald wieder zur Kolonne gestoßen. Alle waren bester Laune: In den Kampf zu ziehen fiel ihnen leichter als das ewige Warten und die Ungewissheit. Außerdem hatte Denis Michailowitsch ihnen vor dem Feldzug erlaubt, sich noch einmal richtig auszuschlafen. Nur er selbst hatte kein Auge zugetan.
Das Schicksal war für ihn immer nur eine Kette von Zufälligkeiten gewesen; daher war es für den alten Haudegen unbegreiflich, wie man sich ihm einfach anvertrauen konnte. Seit die kleine Expedition in Richtung Kachowskaja aufgebrochen war, hatte es keine Nachrichten von ihr gegeben.
Alles war denkbar - auch ein Hunter war nicht unsterblich. Was hatte den Oberst nur dazu gebracht, sich auf einen kriegsversehrten, halb wahnsinnigen Brigadier und einen alten Märchenonkel zu verlassen? Er konnte nicht mehr länger warten.
Der Plan war, den Hauptteil der Streitkräfte durch die Stationen Nachimowski prospekt, Nagornaja und Nagatinskaja bis zum südlichen hermetischen Tor der Tulskaja zu führen und gleichzeitig ein Vorauskommando über die Oberfläche in die Station einzuschleusen. Dessen Aufgabe war es, über diverse Lüftungsschächte in den Tunnel einzudringen, die Wachen zu eliminieren, sofern dort noch welche waren, und der Truppe das Tor von innen zu öffnen.
Alles Weitere war eine Frage der Militärtechnik, egal wer die Station besetzt hielt. Drei Tage hatten sie gebraucht, um die Schächte zu lokalisieren und freizulegen.
Jetzt waren einige Stalker mit den Diversanten unterwegs dorthin, um sie hineinzulassen. Es würde nur noch ein paar Stunden dauern. Ein paar Stunden - dann würde sich alles entscheiden, und Denis Michailowitschs Gedanken wären wieder frei, er würde wieder schlafen und essen können. Der Plan war einfach, sorgfältig austariert, lückenlos.
Dennoch verspürte der Oberst ein seltsames Ziehen im Bauch, und sein Herz raste wie damals, als er mit achtzehn Jahren in seinen ersten Kampf in jenes Bergdorf gezogen war . Die heiße Glut der Papirossa besänftigte seine innere Unruhe ein wenig. Schließlich warf er die Kippe fort, zog sich die Maske wieder über und trieb die Brigade mit eiligen Schritten an.
Bald darauf standen sie vor der stählernen Sicherheitstür. Nun konnten sie eine Verschnaufpause einlegen. Denis Michailowitsch würde die Zeit bis zum Sturm nutzen, um mit seinen Kommandeuren noch einmal die Strategien durchzugehen. In einem hatte Homer recht gehabt, dachte der Oberst und grinste vor sich hin: Wozu sollten sie gegen die Festung anrennen, wenn sie sich von innen öffnen ließ? Das war wie bei der Geschichte mit dem trojanischen Pferd - von wem stammte die nochmal? Denis Michailowitsch warf einen Blick auf seinen Geigerzähler - die Strahlung war gering - und setzte die Gasmaske ab. Sogleich folgten die Offiziere seinem Beispiel, dann die restlichen Kämpfer. Sollten sie ruhig noch einmal Luft holen!
Gaffer hatte es in der Polis schon immer gegeben. Meist waren es arme Schlucker, die sich mit Müh und Not von ihren dunklen Stationen an der Peripherie hierher durchgeschlagen hatten und nun mit aufgerissenen Augen und hängendem Unterkiefer durch die Galerien und Säle wanderten. Und so schenkte auch kaum jemand Homer Beachtung, während er an der Borowizkaja seine Runden drehte, sanft über die schlanken Säulen des Alexandrowski sad strich und hingerissen, ja geradezu verliebt die Lüster der Arbatskaja betrachtete.
Eine Vorahnung hatte sein Herz ergriffen und ließ es nicht mehr los: Dies war sein letzter Aufenthalt in der Polis.
Was ihn in wenigen Stunden an der Tulskaja erwartete, würde sein ganzes bisheriges Leben durchstreichen. Ja, vielleicht bedeutete es sogar sein Ende. Aber er war entschlossen: Er würde tun, was er tun musste. Er würde Hunter erlauben, die Station niederzumetzeln und auszuräuchern, doch dann würde er versuchen ihn zu töten. Er wusste, wenn der Brigadier Verdacht schöpfte, würde er Homer sogleich den Hals umdrehen. Aber vielleicht erwischte es den Alten ja schon beim Sturm der Tulskaja, dann war sowieso alles vorbei. Wenn jedoch alles wie geplant lief, würde sich Homer danach in irgendein einsames Nest zurückziehen, um die letzten weißen Blätter seines Buches - von der bereits geknüpften Intrige bis hin zum finalen Höhepunkt
zu füllen. Letzteren würde er selbst setzen, indem er Hunter einen Genickschuss verpasste. War er dazu imstande? Würde
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