Metro 2034
Geschicke der Welt bestimmten, war sorgfältig dokumentiert worden.
Nun waren die Druckhäuser der ganzen Welt mit einem Schlag vernichtet worden - oder lagen verlassen da. Die Webstühle der Geschichte standen still. In einer Welt ohne Zukunft brauchte sie kaum noch jemand. Die Fetzen des Gewebes hielt nur noch ein dünner Faden zusammen.
In den ersten Jahren nach der Katastrophe war Nikolai Iwanowitsch verzweifelt durch die überfüllten Stationen gestreift, um seine Familie zu finden. Längst hatte er alle Hoffnung aufgegeben, doch verwaist und verloren wie er war, irrte er weiter durch die Finsternis des Untergrunds, denn in dieser Art von Jenseits wusste er nichts mit sich anzufangen. Das Ariadneknäuel - der Sinn des Lebens -, das ihm den richtigen Weg durch das unendliche Labyrinth der Tunnel hätte zeigen können, war ihm aus der Hand gefallen.
In seiner Sehnsucht nach der alten Zeit begann er Zeitschriften zu sammeln, um sich erinnern, um träumen zu können. Und er durchforschte die Nachrichtenseiten und Zeitungskommentare, um herauszufinden, ob man die Apokalypse hätte verhindern können. Irgendwann begann er die Ereignisse an den Stationen, die er aufgesucht hatte, selbst in einer Art Nachrichtenstil aufzuschreiben.
Und so kam es, dass Nikolai Iwanowitsch anstelle des verlorenen Fadens einen neuen, den Faden aufnahm: Er beschloss, Chronist der Metro zu werden, Verfasser der jüngsten Geschichte, vom Ende der Welt bis zu seinem eigenen Ende. Sein ungeordnetes, zielloses Sammeln erhielt nun einen Sinn: das beschädigte Gewebe der Zeit in mühevoller Kleinarbeit zu restaurieren und von eigener Hand fortzuspinnen.
Die anderen hielten Nikolai Iwanowitschs Leidenschaft für harmlose Spinnerei. Bereitwillig opferte er seine Wegzehrung für alte Zeitungen und machte, wohin auch immer es ihn verschlug, aus seinem persönlichen Winkel ein wahres Archiv. Er meldete sich freiwillig zum Wachdienst, weil gerade dort, am Feuer bei Meter 300, wilde Kerle sich wie kleine Jungs wüste Geschichten erzählten, aus denen er jedes noch so kleine Körnchen glaubwürdiger Information über die anderen Regionen der Metro herausfischte. Aus Myriarden von Gerüchten filterte er so die wahren Tatsachen heraus und hielt diese akkurat in seinen Schulheften fest.
Auch wenn ihm diese Arbeit Ablenkung verschaffte, wusste er doch stets um die Vergeblichkeit seines Tuns.
Nach seinem Tod würden all die Berichte, die er sorgfältig im Herbarium seiner Hefte ablegte, mangels angemessener Pflege zu Staub zerfallen. Ab jenem Tag, an dem er nicht mehr vom Dienst zurückkommen würde, waren seine Zeitungen und Chroniken nur noch zum Feuermachen gut, und nicht einmal dafür würden sie lange herhalten.
Von dem vergilbten Papier würden Rauch und Asche bleiben, die Atome würden neue Verbindungen eingehen, neue Formen annehmen, kurz: das Materielle ließ sich kaum zerstören. Doch das, was er eigentlich zu bewahren hoffte, all das Unfassbare, Ephemere, das sich auf diesen Seiten drängte, würde für immer, endgültig verloren gehen.
So funktionierte der Mensch eben: Was in den Schulbüchern stand, blieb ihm nur so lange im Gedächtnis, bis er die Abschlussprüfung bestanden hatte. Und wenn er dann all das Gelernte wieder vergaß, so tat er dies mit ehrlicher Erleichterung. Das Gedächtnis des Menschen ist wie Wüstensand, dachte Nikolai Iwanowitsch. Zahlen, Daten und Namen zweitrangiger Personen verwehen darin spurlos, als hätte man sie mit einem Holzstock in eine Wanderdüne geschrieben.
Nur dann kann sich etwas darin halten, wenn es die Fantasie des Menschen erobert, das Herz schneller schlagen lässt, den Menschen dazu bewegt, sich etwas hinzuzudenken, etwas zu empfinden. Eine ergreifende Geschichte eines großen Helden und seiner Liebe kann eine ganze Zivilisation überleben, indem sie sich im Gehirn der Menschen festsetzt und über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Nachdem er dies begriffen hatte, wandelte er sich vom Möchtegern-Wissenschaftler zum Alchemisten - und aus Nikolai Iwanowitsch wurde Homer. Von nun an verbrachte er seine Nächte nicht mehr damit, irgendwelche Chroniken zu erstellen, sondern nach der Formel für die Unsterblichkeit zu suchen. Nach einer Geschichte, die so langlebig war wie Gilgamesch, und einem Helden, der es an Zähigkeit mit Odysseus aufnehmen konnte. Auf den Faden dieser Geschichte würde Homer dann all das von ihm gesammelte Wissen auffädeln. Und in einer Welt, in der
Weitere Kostenlose Bücher