Metro 2034
Papier in Wärme umgewandelt wurde, in der man die Vergangenheit leichtsinnig für einen Augenblick in der Gegenwart opferte, würde die Legende dieses Helden die Herzen der Menschen erobern und sie von ihrer kollektiven Amnesie erlösen.
Doch die ersehnte Formel ließ auf sich warten; der Held wollte einfach nicht auf der Bühne erscheinen. Das Abschreiben von Zeitungsartikeln hatte Homer nicht gelehrt, wie man Mythen erzeugt, einem Golem Leben einhaucht und eine erfundene Geschichte attraktiver macht als die Realität. Sein Arbeitstisch kam ihm vor wie Frankensteins Laboratorium: überall zerknüllte Seiten mit bruchstückhaften ersten Kapiteln einer Saga, deren Charaktere nicht überzeugend, nicht überlebensfähig waren. Das Einzige, was bei seinen nächtelangen Sitzungen herauskam, waren dunkle Ringe unter den Augen und wund gebissene Lippen.
Und doch gab Homer seine neue Bestimmung so leicht nicht auf. Er verscheuchte jeden Verdacht, dass er womöglich nicht dafür geeignet war, dass es zur Erschaffung von Welten einer Begabung bedurfte, die man ihm vorenthalten hatte. Er müsse einfach noch auf die Eingebung warten, redete er sich ein. Und woher sollte die auch kommen in der stickigen Stationsluft, zwischen dem Teeritual zu Hause und seiner Schicht in der Landwirtschaft, ja selbst während der Wachdienste, zu denen man ihn aus Altersgründen immer seltener heranzog? Nein, er brauchte Aufregung, Abenteuer, den Sturm der Leidenschaft. Vielleicht brachen dann ja doch irgendwann die Dämme seines Bewusstseins, und er würde sein schöpferisches Werk beginnen können.
Selbst in den schwierigsten Zeiten war die Nagatinskaja nie ganz unbewohnt gewesen. Sie war freilich kein idealer Lebensort: Hier wuchs nichts, und die Ausgänge nach oben waren versperrt. Doch manch einem kam die Station zupass, um für eine gewisse Zeit unterzutauchen oder sich für ein intimes Stelldichein mit einer Geliebten zu treffen.
Jetzt aber war sie leer.
Hunter huschte mit lautlosen Schritten die Treppe hinauf zum Bahnsteig und blieb stehen. Homer folgte ihm keuchend und blickte sich nervös nach allen Seiten um. Die Station war dunkel, nur der in der Luft hängende Staub glitzerte im Schein ihrer Lampen. Die spärlichen Häufchen aus Fetzen und Pappe, auf denen sich die gelegentlichen Gäste der Nagatinskaja niederließen, lagen über den Boden verstreut da.
Homer lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Säule und glitt langsam zu Boden. Einst war die Nagatinskaja mit ihren eleganten mehrfarbigen Marmormosaiken eine seiner Lieblingsstationen gewesen. Doch so dunkel und leblos, wie sie jetzt war, hatte sie mit ihrem früheren Äußeren kaum noch etwas gemein. Wie das gravierte Konterfei eines Toten auf seinem Grabstein, angefertigt anhand eines alten Passfotos aus einer Zeit, als jener noch nicht ahnen konnte, dass er nicht ins Objektiv, sondern in die Ewigkeit blickte.
»Keine Menschenseele«, sagte Homer zögerlich, verwirrt. »Außer einer«, widersprach der Brigadier und nickte ihm zu. »Ich meinte.«, begann der Alte, doch Hunter unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
Am anderen Ende der Station, dort, wo die Säulenreihe endete und sogar der Scheinwerfer des Brigadiers sich verlor, kroch etwas langsam auf den Bahnsteig.
Homer fiel seitlich auf den Boden, stützte sich mit den Armen ab und erhob sich dann schwerfällig. Hunters Lampe war erloschen, der Brigadier selbst hatte sich in Luft aufgelöst. Schweißnass vor Angst tastete Homer nach dem Sicherungshebel und presste zitternd den Gewehrkolben gegen die Schulter. Aus der Ferne drangen zwei gedämpfte Schüsse an seine Ohren. Ermutigt blickte Homer hinter der Säule hervor und hastete dann weiter nach vorne.
In der Mitte des Bahnsteigs stand Hunter aufrecht da. Zu seinen Füßen krümmte sich eine schwer erkennbare, hagere und erbärmliche Gestalt. Sie schien ausschließlich aus Kisten und Fetzen zu bestehen und erinnerte nur entfernt an einen Menschen, war aber einer. Alter und Geschlecht waren nicht eindeutig auszumachen - in seinem verdreckten Gesicht waren nur die Augen zu erkennen. Er gab undeutliche, stöhnende Laute von sich und versuchte von dem über ihm aufragenden Brigadier fortzukriechen. Wie es aussah, hatte dieser ihm beide Beine durchschossen.
»Wo sind sie alle? Warum ist hier niemand?« Hunter trat mit seinem Stiefel auf die Schleppe aus stinkenden, zerrissenen Lumpen, die der Obdachlose hinter sich herzog. »Sie sind alle weg. haben mich im Stich
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