Metro 2034
gelassen. Bin ganz allein zurückgeblieben«, krächzte dieser. Dabei wischte er mit den Händen über den glatten Granit, jedoch ohne vorwärtszukommen.
»Wo sind sie hingegangen?« »Zur Tulskaja.« Homer hatte die beiden erreicht und mischte sich sogleich ein: »Was geht dort vor sich?« »Woher soll ich das wissen?« Der Obdachlose zog eine Grimasse. »Alle, die dorthin gegangen sind, sind dort verreckt. Frag die doch. Ich hab keine Kraft mehr, mich in den Tunneln rumzutreiben. Ich sterbe lieber hier.« Der Brigadier ließ nicht locker: »Warum sind sie fortgegangen?« »Sie hatten Angst, Chef. Die Station wurde immer leerer. Also beschlossen sie durchzubrechen.
Keiner ist zurückgekehrt.« »Gar niemand?« Hunter hob den Lauf seiner Pistole an. »Niemand. Nur einer«, korrigierte sich der Mann. Als er bemerkte, dass die Mündung weiter auf ihn gerichtet war, krümmte er sich wie eine Ameise unter dem Brennglas.
»Der ist zur Nagornaja gegangen. Ich hab geschlafen. Vielleicht hab ich es mir auch nur eingebildet.« »Wann?« Der Obdachlose schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Uhr. Vielleicht gestern, vielleicht vor einer Woche.«
Es kamen keine Fragen mehr, doch der Pistolenlauf war immer noch auf die Stirn des Verhörten gerichtet. Hunter schwieg, als wäre seine Mechanik abgelaufen. Er atmete seltsam schwer; man hätte meinen können, die Unterredung mit dem Penner hätte ihn zu viel Kraft gekostet.
»Darf ich .«, hob der Obdachlose an.
»Da, friss!«, knurrte der Brigadier, und bevor Homer begriff, was vor sich ging, drückte er zweimal ab. Das schwarze Blut aus der durchlöcherten Stirn schoss über die weit aufgerissenen Augen des Unglücklichen. Er fiel zu Boden und wieder war er nichts als ein Haufen Lumpen und Pappe. Ohne aufzublicken, lud Hunter vier neue Patronen in das Magazin seiner Stetschkin und sprang auf die Gleise.
»Wir finden das bald selber raus«, rief er dem Alten zu.
Homer beugte sich widerwillig über die Leiche, nahm ein Stück Stoff und bedeckte damit den zerschmetterten Kopf des Obdachlosen. Seine Hände zitterten noch immer. »Warum hast du ihn getötet?«, sagte er schwach. »Frag dich selbst«, gab Hunter dumpf zurück.
Selbst wenn er all seine Kraft zusammennahm, konnte er nur noch die Augen öffnen und schließen. Seltsam, dass er überhaupt wieder aufgewacht war . Er war vielleicht eine Stunde lang ohne Bewusstsein dagelegen, und in dieser Zeit hatte die Taubheit seinen ganzen Körper wie eine Eisschicht bedeckt. Seine Zunge war am Gaumen festgetrocknet, und auf seiner Brust lastete ein zentnerschweres Gewicht. Nun konnte er nicht einmal mehr seiner Tochter Lebewohl sagen - dabei war es das Einzige, wofür es sich gelohnt hätte, noch einmal zu sich zu kommen und das Ende seines ewigen Lebenskampfes noch einmal hinauszuzögern.
Sascha lächelte nicht mehr. Offenbar träumte sie jetzt unruhig, lag zusammengerollt auf ihrer Liege, beide Arme um sich geschlungen, die Stirn gerunzelt. Schon als Kind hatte er sie stets geweckt, wenn sie von Alpträumen gequält wurde, doch nun reichten seine Kräfte gerade noch, um langsam die Lider zu bewegen.
Wenn er aushalten wollte, bis Sascha erwachte, musste er weiterkämpfen. Über zwanzig Jahre schon dauerte sein Kampf, jeden Tag, jede Minute -er war verdammt müde geworden davon. Müde sich zu schlagen, müde sich zu verstecken, müde zu jagen. Zu beweisen, zu hoffen, zu lügen.
Während sich sein Bewusstsein immer mehr verdunkelte, verspürte er nur noch zwei Wünsche: einmal noch Sascha in die Augen zu sehen und dann . endlich Ruhe zu finden. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Wieder stiegen die Bilder der Vergangenheit vor seinem inneren Auge auf und mischten sich mit der Realität. Er musste eine Entscheidung treffen. Andere brechen oder selbst gebrochen werden. Strafen oder büßen.
Die Gardisten schlossen die Reihen. Jeder von ihnen war ihm persönlich ergeben. Bereit hier und jetzt zu sterben, sich von der Menge zerreißen zu lassen, auf Unbewaffnete zu schießen. Er war der Kommandant der letzten unbesiegten Station der Metro, Präsident einer nicht mehr existenten Konföderation. Unter diesen Soldaten war seine Autorität unbestritten, er war unfehlbar, und jeder seiner Befehle würde unverzüglich, ohne nachzudenken ausgeführt werden. Er würde für alles die Verantwortung übernehmen, wie er es stets getan hatte.
Wenn er jetzt zurückwich, würde die Station zuerst in Anarchie versinken, und dann würde jenes
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