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Metro 2034

Metro 2034

Titel: Metro 2034 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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Teetütchen in die Brusttasche ihres Overalls gesteckt. Die kleine quadratische Plastikhülle, die noch immer den leisen Hauch eines Grüntee-Aromas verströmte, war ihr größter Schatz. Und eine Erinnerung daran, dass das Universum sich nicht auf den Torso ihrer Station mit seinen vier Tunnelstümpfen beschränkte, vergraben in einer Tiefe von zwanzig Metern in der Friedhofsstadt Moskau. Diese Verpackung war eine Art magisches Portal, das Sascha über Jahrzehnte und Tausende Kilometer hinweg zu versetzen vermochte. Und sie war noch etwas anderes, unermesslich Wichtiges.
    In dem feuchten Klima, das hier herrschte, zerfiel Papier in kürzester Zeit. Doch Fäulnis und Schimmel zerfraßen nicht nur Bücher und Zeitschriften -sie vernichteten die gesamte Vergangenheit. Ohne Bilder und Chroniken fing das ohnehin schon hinkende menschliche Gedächtnis an zu stolpern und lief in die Irre wie ein Mensch ohne Krücken.
    Die Hülle des Teebeutels war jedoch aus einem Kunststoff, dem weder Schimmelpilze noch die Zeit etwas hatten anhaben können. Saschas Vater hatte ihr einmal gesagt, es würden Jahrtausende vergehen, bevor dieses Material anfing zu zerfallen. Also würden ihre Nachkommen diesen Beutel irgendwann ihren eigenen Kindern weitervererben, dachte sie.
    Es war - wenn auch in Miniatur - ein echtes Bild. Ein goldener Rahmen, so strahlend wie an jenem Tag, als das Tütchen vom Fließband geglitten war, umgab eine Aussicht, die Sascha den Atem verschlug. Steil abfallende Felswände, versunken in träumerischem Dunst, ausladende Kiefern, die sich an die fast senkrechten Hänge klammerten, tosende Wasserfälle, die aus höchster Höhe in den Abgrund stürzten, ein purpurroter Schein, der den Sonnenaufgang ankündigte . In ihrem ganzen Leben hatte Sascha noch nichts Schöneres gesehen.
    Sie konnte lange so dasitzen, mit dem Tütchen in der Hand, und es betrachten. Jener frühmorgendliche Dunst, der die fernen Berge umhüllte, hielt ihren Blick magisch gefangen. Und obwohl sie alle Bücher, die ihr Vater von seinen Beutezügen mitbrachte, gierig verschlang, bevor sie sie verkaufte, reichten die dort gelesenen Worte nicht aus, um zu beschreiben, was sie empfand, wenn sie die zentimetergroßen Felswände anschaute und den Nadelgeruch der abgebildeten Kiefern einatmete. Es war die Realitätsferne dieser Welt, aus der ihre unwahrscheinliche Anziehungskraft erwuchs . Die süße Sehnsucht und ewige Erwartung dessen, was die Sonne als Erstes sehen würde . Das endlose Hin-und Herüberlegen, was sich bloß hinter dem Schild mit der Teemarke versteckte: Ein ungewöhnlicher Baum? Ein Adlerhorst? Ein gegen den Abhang geschmiegtes Häuschen, in dem sie mit ihrem Vater leben würde?
    Er war es gewesen, der ihr, seiner noch nicht einmal fünfjährigen Tochter, das Tütchen mitgebracht hatte. Damals noch mit Inhalt, was eine große Seltenheit war. Er hatte sie mit echtem Tee überraschen wollen - und sie musste allen Mut zusammennehmen und trank ihn wie eine Medizin.
    Die Plastikhülle jedoch hatte sie von Anfang an seltsam fasziniert. Damals musste ihr Vater ihr erklären, was diese nicht gerade kunstvolle Illustration darstellte: eine konventionelle Berglandschaft in einer chinesischen Provinz, gerade gut genug für den Abdruck auf einer Teepackung. Doch noch zehn Jahre später betrachtete Sascha sie mit der gleichen Verzauberung wie an jenem Tag, als sie das Geschenk bekommen hatte.
    Ihr Vater fand dagegen, dass das Tütchen für Sascha nur ein schäbiger Ersatz für eine ganze Welt war. Und jedes Mal, wenn sie in diese selige Trance verfiel und diese mehr schlecht als recht hingepinselte Fantasie betrachtete, empfand er das als unausgesprochenen Vorwurf für ihr verstümmeltes, blutleeres Leben. Stets versuchte er sich zurückzuhalten, doch ohne großen Erfolg. Mit kaum verhohlenem Ärger fragte er sie dann zum hundertsten Mal, was sie bloß an dieser abgegriffenen Verpackung für ein Gramm Teekrümel so Großartiges finde.
    Und zum hundertsten Mal ließ sie ihr kleines Meisterwerk hastig in der Tasche ihres Overalls verschwinden und antwortete verlegen: »Papa . Ich finde es so schön!« Wäre Hunter nicht gewesen, der bis zur Nagatinskaja nicht eine Sekunde stehenblieb, Homer hätte für den Weg dreimal so lange gebraucht. Niemals.
    Für den Transit durch die Nagornaja hatte die Gruppe einen grausamen Preis zahlen müssen, doch immerhin waren zwei von drei durchgekommen; und es hätten auch alle drei überleben können, wenn sie sich

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