Metro 2034
Mensch. Grausam, dumm und nachtragend. Wie alle.« »Nicht alle«, wandte der Alte ein, doch es klang nicht besonders überzeugt.
»Doch, alle«, wiederholte das Mädchen. Sie verzog das Gesicht, aber es gelang ihr, sich auf die angeschwollenen Füße zu stellen. »Was soll's. Es ist nicht immer einfach, Mensch zu bleiben.«
Wie schnell sie ihre Furcht abgelegt hatte!Nun schlug sie die Augen nicht mehr zu Boden, sondern blickte die beiden Männer streng und herausfordernd an. Sie bückte sich zu einer der Leichen herab, drehte sie vorsichtig auf den Rücken, legte die eingeknickten Arme zurecht und küsste die Stirn des Toten. Dann wandte sie sich Hunter zu, kniff die Augen zusammen, und einer ihrer Mundwinkel zuckte.
»Danke.« Sie nahm weder Waffen noch sonst irgendwelche Sachen mit. Sie kletterte auf das Gleis hinab und ging leicht hinkend auf den Tunnel zu. Der Brigadier sah ihr mit finsterem Blick nach. Seine Hand glitt an seinem Gürtel hin und her, unentschlossen zwischen Messer und Feldflasche. Endlich traf er eine Entscheidung, richtete sich auf und rief ihr nach: »Warte!«
8 - MASKEN
Der Käfig lag noch dort, wo der Dicke Sascha niedergeschlagen hatte. Das Türchen stand offen, die Ratte war fort. Schon gut, dachte das Mädchen. Auch eine Ratte hat ein Recht auf Freiheit.
Es half nichts: Sascha musste die Gasmaske ihres Entführers aufsetzen. Sie glaubte noch einen Rest seines faulen Atems zu verspüren, doch konnte sie froh sein, dass der Dicke die Maske nicht getragen hatte, als er niedergeschossen wurde. In der Mitte der Brücke stieg die Strahlung plötzlich wieder an.
Es glich einem Wunder, dass sie sich in dem riesigen Schutzanzug, in dem sie herumschlotterte wie eine Kakerlakenlarve in ihrem Kokon, überhaupt bewegen konnte. Die Gasmaske war zwar von der breiten Visage des Dicken gedehnt worden, haftete aber dennoch gut an ihrem Gesicht.
Sascha versuchte so kräftig wie möglich auszuatmen, um die für den Toten gedachte Luft aus den Schläuchen und Filtern zu vertreiben, doch während sie durch die runden, beschlagenen Sichtgläser nach draußen blickte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie in einen fremden Körper geschlüpft war. Noch vor einer Stunde steckte in diesem Anzug jener grausame Dämon, der sie heimgesucht hatte
und nun musste sie, um über diese Brücke zu kommen, sich gleichsam in ihn hineinversetzen, mit seinen Augen die Welt betrachten.
Mit seinen - und mit den Augen jener Menschen, die sie und ihren Vater an die Kolomenskaja verbannt hatten, die sie all diese Jahre nur deswegen hatten leben lassen, weil ihre Gier stärker war als ihr Hass. Würde Sascha, um sich in der Menschenmenge zu verlieren, weiter diese schwarze Gummimaske tragen müssen? Würde sie so tun müssen, als wäre sie jemand anders, jemand ohne Gesicht und Gefühle?
Wenn es ihr wenigstens dabei helfen würde, sich auch innerlich zu verändern: all das, was sie durchgemacht hatte, zu vergessen und fest daran zu glauben, dass sie noch einmal von vorn beginnen konnte!
Sascha hätte sich gewünscht, dass diese beiden sie nicht zufällig aufgelesen hätten, sondern eigens wegen ihr hierher geschickt worden wären, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Sie begriff nicht, warum sie sie mitnahmen: ob zum Vergnügen, aus Mitleid oder um sich gegenseitig irgendetwas zu beweisen. In den wenigen Worten, die ihr der Alte hingeworfen hatte, schwang eine gewisse Anteilnahme mit, doch achtete er bei allem, was er tat, stets auf seinen Begleiter, blieb wortkarg und schien besorgt, nicht allzu menschlich zu erscheinen.
Der andere wiederum hatte sich, seit er dem Mädchen erlaubt hatte, bis zur nächsten bewohnten Station mit ihnen mitzugehen, kein einziges Mal nach ihr umgesehen. Sascha war absichtlich etwas zurückgeblieben, um ihn wenigstens von hinten ungehindert mustern zu können, doch offenbar hatte er ihren Blick gespürt, denn sofort verkrampfte er und zuckte mit dem Kopf, drehte sich allerdings nicht um - vielleicht aus Gefälligkeit gegenüber ihrer mädchenhaften Neugier, vielleicht aber auch, damit sie nicht glaubte, dass er sie beachtete.
Der mächtige Körperbau des Kahlen und seine animalische Verhaltensweise, deretwegen der Dicke ihn mit einem Bären verwechselt hatte, kennzeichneten ihn als einsamen Krieger. Aber dieses Bild hatte nicht nur etwas mit seiner physischen Stärke zu tun. Von ihm ging eine Kraft aus, die genauso spürbar gewesen wäre, wenn er dürr und kleinwüchsig gewesen wäre.
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