Metro 2034
Ein Mann wie dieser konnte so gut wie jeden dazu zwingen, ihm zu gehorchen; und wagte es doch jemand, sich seinem Befehl zu widersetzen, würde er ihn ohne zu zögern vernichten.
Und lange bevor Sascha ihre Furcht vor diesem Menschen unter Kontrolle bekam, lange bevor sie sich seiner und ihrer selbst klar wurde, sagte ihr eine noch unbekannte innere Stimme - die Stimme der Frau in ihr -, dass auch sie ihm folgen würde.
Die Draisine kam erstaunlich schnell voran. Homer spürte fast keinen Widerstand der Hebel, denn der Brigadier ihm gegenüber leistete ganze Arbeit. Der Alte hob und senkte aus Anstand ebenfalls die Arme, doch kostete es ihn praktisch keine Kraft.
Die gedrungene Metrobrücke watete mit vielen Pfeilern durch das dunkle, dickflüssige Wasser. Die Betonverkleidung war an einigen Stellen bereits von dem Eisenskelett abgefallen, und die Füße standen so schief, dass eine der beiden Spuren abgeknickt und eingestürzt war.
Es war eine rein funktionale Brücke gewesen, ein Standardmodell, kurzlebig wie die Neubauten der Umgebung und all die auf dem Reißbrett entworfenen Außenbezirke der Hauptstadt. An ihr war nichts, aber auch gar nichts Ästhetisches. Dennoch musste Homer, während er sich begeistert nach allen Seiten umsah, an die magischen Klappbrücken Petersburgs denken oder an die elegante Brückenkonstruktion von Krymski most mit ihren gusseisernen Ketten.
In den über zwanzig Jahren, die er jetzt in der Metro lebte, war Homer nur dreimal an die Oberfläche gegangen. Jedes Mal hatte er versucht so viel zu erblicken, wie es ein kurzer Freigang eben zuließ. Die Erinnerung aufzufrischen, seine schwächer werdenden Augen wie Objektive auf die Stadt zu richten und auf den leicht rostigen Auslöser seines visuellen Gedächtnisses zu drücken, um möglichst viele Eindrücke für die Zukunft zu sammeln. Vielleicht hatte er ja nie wieder die Gelegenheit, an so wunderschönen Orten nach oben zu kommen wie der Kolomenskaja, dem Retschnoi woksal oder dem Tjoply stan - alle drei weit außerhalb gelegene Stationen, die er früher, wie so viele Moskauer, zu Unrecht mit einer gewissen Herablassung behandelt hatte.
Mit jedem Jahr alterte Moskau zusehends, zerfiel, verwitterte. Homer hatte das Bedürfnis, die sich allmählich auflösende Brücke zu berühren, so wie das Mädchen vor ihm an der Kolomenskaja den anderen Toten noch einmal gestreichelt hatte. Die Brücke, die grauen Vorsprünge der Fabrikgebäude, die verwaisten Bienenstöcke der Wohnhäuser. Ihren Anblick zu genießen. Sie zu berühren, um zu spüren, dass sie tatsächlich existierten, dass dies hier kein Traum war. Und um von ihnen Abschied zu nehmen - für alle Fälle.
Die Sicht war schlecht, das silberne Mondlicht drang nicht durch die dichte Wolkendecke, so dass der Alte die Umgebung mehr erahnte, als dass er sie wahrnahm. Aber das machte nichts: Er war es ohnehin gewohnt, die Wirklichkeit durch Imagination zu ersetzen.
Im Übrigen dachte Homer nur noch an das, was er jetzt sah. Vergessen waren die Legenden, die zu erschaffen er sich vorgenommen hatte, vergessen das geheimnisvolle Tagebuch, das seine Fantasie in den letzten Stunden andauernd beschäftigt hatte. Es ging ihm wie einem Kind bei einem Schulausflug: Er sog den Anblick, den die verschwommenen Silhouetten der Hochhäuser boten, in sich auf, drehte ständig den Kopf hin und her und sprach laut mit sich selbst.
Die anderen beiden genossen die Überfahrt weit weniger.
Der Brigadier, der in Fahrtrichtung blickte, hielt nur von Zeit zu Zeit inne, um hinabzuspähen, wenn von unten ein Geräusch zu hören war. Ansonsten galt seine ganze Aufmerksamkeit jenem entfernten, für niemanden sonst sichtbaren Punkt, wo sich die Gleise wieder ins Erdreich gruben.
Das Mädchen saß hinter ihm und hielt die erbeutete Gasmaske mit beiden Händen umklammert. Es war ihr anzusehen, dass sie sich hier oben nicht wohl fühlte. Im Tunnel war sie Homer groß vorgekommen, doch kaum waren sie draußen, wurde sie klein, als hätte sie sich in ein unsichtbares Schneckenhaus zurückgezogen, und selbst der ausladende Schutzanzug, den sie der Leiche abgenommen hatten, machte sie nicht größer. Die faszinierenden Dinge, die man von der Brücke aus sehen konnte, schienen sie nicht zu interessieren - meist blickte sie nur direkt vor sich auf den Boden.
Sie passierten die Ruinen der Station Technopark. Diese war kurz vor dem Krieg in aller Eile fertig gestellt worden, und ihr beklagenswerter Zustand war weniger
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